Hans-Joachim Müller, Basler Zeitung, 28. 8. 2004
Wenn in der Öffentlichkeit der Eindruck entsteht, dass da ungreifbare Kommissionen mit diktatorischer Vollmacht «über unsere Sprache» bestimmen, dann ist das Gegenteil von Liberalisierung erreicht. […] Die Duden-Redaktion kann es nur freuen, weil ihr in Zeiten der Verunsicherung ein quasi gesetzgeberisches Mandat zufällt. Was sie zwar ablehnt. Noch immer gelte die alte Doktrin, nach der der Duden im Prinzip nur kanonisiere, was sich im Sprachgebrauch durchgesetzt habe. Aber in der Werbung klingt das etwas anders: «Die neue Rechtschreibung endlich amtlich!» Die 23. Auflage vermittle «den aktuellen Stand der neuen Rechtschreibung. Sie enthält die für Behörden und Schulen ab dem 1. August 2005 allein verbindlichen neuen Schreibungen, Trennungen und Regeln.»
Wobei die eine oder andere Reform der Reform mit eingeflossen ist. Vor allem das Hauptstück der Reform, die strikte Trennung der Komposita, hat Blessuren erlitten. So wird das etwas fremde rechtschreibkommissarische «so genannt» vom Duden wieder in «sogenannt» umgeschrieben. Und wer mit Hingabe und Geduld im Buch der 125 000 Stichwörter blättert, findet noch manches zur Beruhigung der aufgebrachten Sprachgemüter. Aber auch manches, was eher zur Verschlimmerung der Verunsicherung beitragen mag. Warum es Sinn machen soll, wiederherstellen in einem Wort und wieder herrichten in zwei Wörtern zu schreiben, erschliesst sich auch bei Strapazierung der Sprachkompetenz nicht so recht.
Eine andere, häufig übersehene Bedeutung kommt dem Duden als Benimmwörterbuch zu. Warum man nicht mehr «Neger» oder «Zigeuner» sagen darf, wird nun in hübschen Kästchen erklärt, was kulturgeschichtlich ungleich interessanter scheint und eher von bleibendem dokumentarischem Wert ist als der Streit über die Substantivierung von Worten, die im Satzglied keine sein können, weil das Verb intransitiv gebraucht wird (z.B. laut Duden «Bankrott gehen», was grammatikalisch falsch ist, weil «gehen» kein Substantiv an sich bindet). Nicht wenige der 5000 Neueinträge sind auch auf das Gender-Konto zu verbuchen. Wer immer noch ans Abendland denkt und dabei die Abendländerin nicht erwähnt, outet sich entweder als schlimm verunsichert oder als Nichtbesitzer (Nichtbesitzerin) der 23. Auflage des geschlechtsneutralen Duden.