Bund für vereinfachte rechtschreibung (BVR)
Die amtliche Rechtschreibung und eine deutsche Volksorthographie
2) Ein Rückblick und ein Ausblick
Um das Jahr, 1778 (oder in demſelben) schrieb der Dichter Klopstock an Ebert u. a.: „Für Iren Leonidas mus ich Inen schon itzt danken, ich kan das nicht bis uſw.“ Schon er kämpfte vergeblich für Verbesserung der Schreibung, und es ist heute noch nicht erreicht, was er wollte, obschon ein Jahrhundert später (1876) Dr. Fr. W. Fricke ſeinen Aufruf an die deutsche Nation zur Beschaffung einer Orthographie für das geeinte Deutschland erließ und über 12000 Anhänger und Freunde ſeiner Reformvorschläge um ſich verſammeln konnte. Zwietracht und Selbstſucht haben später ſein Werk zugrunde gerichtet. Schuld aber an den Misserfolgen aller gefunden Bestrebungen trägt eine Philoſophie und Michelei, die man formulieren könnte: Das Ferkel hat ſich nicht gewaschen und wurde doch ein Sch.... Das ist zwar nicht fein, trifft aber den Nagel auf den Kopf. O, dieſe gleichgültige, faule, dumme Amme Gewohnheit.
Dieſe Donna steht ſelbstbewusst, fest, von keinem Entwickelungstrieb angekränkelt da und verkörpert in ſich den jeweils herrschenden (ſogen.) geſunden Menschenverstand, der – konſervativ bis in die Knochen – doch ehedem aus den Eingeweiden eines Opfertieres Rat holte, Weisheit zapfte, später gottgefällig Hexen und Ketzer verbrannte, immer jede ihm unbequeme Neuerung hartnäckig ablehnte, bekämpfte und eine längst ſichtbare Morgenröte besserer Zeiten gar nicht ſehen wollte; der aber jedes überwundene Gestrige überlegen belächelt, ja gewissermaßen über ſeine eigene Niederlage triumphiert. Ein putziges Tier. Ein geistreicher Spötter ſoll ihm ein ganzes Buch gewidmet haben.
Von Zeit zu Zeit wirft der Schöpfer aus ſeiner Fülle Kräfte in die sterile Masse. Heute hält ſie ja noch mit den Zähnen unſere miſerable amtliche Rechtschreibung fest, morgen vielleicht wird ſie – mal wieder ſiegreich unterlegen – um keinen Preis an einer „Verbesserten“ rütteln lassen und später ſelbstverständlich jedem gut hörbaren Laut der Rede nur ein (nämlich ſein) Zeichen geben. Dann schreiben wir etwa ſo, wie ich es unter C – folksortografi – dargestellt habe, ja es ist gar nicht ausgeschlossen, dass dann meine gekürzten ai au und oi in Ehren zu Recht bestehen.
Die größte Einfachheit ist die größte Schönheit; aber Selbstſucht und Unverstand wollen ſie noch nicht. Mit „Waage, waagerecht“ und dergleichen kommen wir auf die schiefe Ebene und geraten nur noch tiefer in den Sumpf. Es mag ja ſein, dass wirtschaftliche Gründe – wie der wackere Mitkämpfer zur Verbesserung unſerer Rechtschreibung, der würdige, leider kürzlich verstorbene Herr Regierungs- und Baurat Stähler mir schrieb – es mag ja ſein, dass eine Unterscheidung von Wagen und „Waagen“ wünschenswert wurde, musste deshalb das ganze Volk die neue Verirrung und Belastung übernehmen. Wenn Wagen- und Wagefabrikation nicht differenziert genug war, dann hätten Symbole – Wagebalken oder Rad – die Unternehmen und deren Sendungen äußerlich kennzeichnen ſollen.
Eins ist gewiss! Die vielen Mängel unſerer „Amtlichen“ können durch Quackſalbereien nicht behoben werden; aber wann kommt der Retter unſerm Volke?
Es ist doch merkwürdig! Kein Mensch ſitzt heute noch beim Kienspan wie mein Großonkel, oder bei der Tranfunzel ſeligen Angedenkens wie ich als Abc-Schütze. Jeder technische Fortschritt wird dankbar begrüßt und verwertet; aber trotz Ickelſamer, Klopstock, Max Moltke, Grimm und Fricke ärgern ſich täglich millionenfach Lehrer und Schüler wegen Meinungsverschiedenheiten in der Rechtschreibung, und kein Deutscher kann ohne den Duden fertig werden. Muss das ſo ſein? Soll das ſo bleiben?
Nein! gewiss nicht. Unter dem Cultusminister – man schrieb das Wort damals ſo – von Putkamer ereignete ſich etwas Furchtbares, etwas in der Menschengeschichte noch nicht dageweſenes, dass einem Volke von ungefähr 60 Millionen Köpfen par ordre de mufti ſeine Orthographie vorgeschrieben wurde. Die Lehrer wurden angewieſen, mit dem Beginn des Jahres 1890 (in Preußen) eine amtliche Rechtschreibung zu lehren und von P. bat ſeine ,Collegen' im Reich, auch ihrerſeits eine ſolche zu empfehlen. Über dieſes Vorgehen ging ein Schrei der Entrüstung durch die Fach- und Tagespresse; man verschrie das Vorgehen als eine Vergewaltigung der Muttersprache (!). W. Jensen, der Schriftsteller, nannte es „eine knabenhafte Vermessenheit von Taschenspielern in Schusterröcken und Geheimratsfräckchen“. Die Lehrer waren „Staatsbüttel, ſo die Maleficanten an den Ohren zur Rechenschaft zu ziehen hätten“, und er höhnte: „Vermuthlich ſah der Urheber dieſer großen orthographischen That bei der ersten genialen Erleuchtung ſeines Kopfinnern ſich bereits in Tuffstein ausgehauen, die Denkerstirn mit Distellaub umkränzt im Thiergarten stehen.“ Ich wunderte mich und gab dem auch Ausdruck, dass er nicht mit Distellaub umwickelt und im Thiergarten liegen geschrieben hatte.
Der Herr Reichskanzler von Bismarck aber verbot am 28. Februar desſelben Jahres die Anwendung der vereinfachten Rechtschreibung im amtlichen Verkehr allen Reichsbehörden, und Herr von P. musste in Preußen anordnen, dass die Lehrer in ihren Berichten und Eingaben die anbefohlene Orthographie nicht verwenden ſollten.
Trotzdem drang ſie durch, gelangte in die Schulbücher, in die Schriften für Lehrer, in die Schul- und Volksbibliotheken, bald auch zu allgemeinerer Verwendung, ja – ſie drang durch trotz einer Welt von Gegnern und gegen den Willen des Titanen in alle Archive. – –
Wenn alle Abc-Schützen von heute an und alle Schüler weiterhin nur eine Rechtschreibung kennen lernten, dann würden die Sprösslinge gar bald die Lehrmeister der Eltern werden, und nach einem Jahrzehnt wäre unſere Schlechtschreibung ſang- und klanglos begraben.
3) Ein Appell
Wir könnten uns alle ſo leicht von einem Schulkreuz befreien, könnten deutsches Wissen, Weſen und Wollen in unſerer schönen deutschen Sprache leicht leſbar und erlernbar aller Welt vorlegen. Im Bau unſerer Sprache herrschen Geſetze, wie ſie gar nicht vernünftiger zu einer Reform unſerer verbohrten Orthographie erdacht werden können. Es bedarf nur eines festen Entschlusses, und wir ſind ein Scheuſal loſ.
Wir haben einen Schatz im Acker, auf eigenem Grund und Boden, könnten durch ihn die deutsche Sprache zur Weltsprache ſich erheben ſehen, könnten die Welt uns erobern, aber – wir tun es nicht.
„Wirtschaft, Horatio, Wirtschaft!
Du deutsche Regierung, ihr Herren Minister aller Verwaltungskreiſe, du deutsche Volksvertretung und nicht zuletzt: du deutsche Lehrerschaft – wollen wir uns nicht aufraffen? Deutschland in der Welt voran! Heben wir den Schatz! Beschenken wir uns, erobern wir uns die Welt! An die Gewehre!