Eine eigentümliche Stellung nimmt neuerdings Theodor Vernaleken ein. Der Mann, der 1848 zur orthographiſchen Revolution aufgerufen, predigt 1868 den „orthographiſchen Frieden“. Er ſteht zwar heute noch wie 1851 auf weſentlich phonetiſchen Standpunkte („mir gilt die Ausſprache viel, die Abſtammung etwas“), aber in der wichtigſten Frage hat er ſich von den Phonetikern aus hiſtoriſchen Rückſichten losgeſagt. Das Heyſe’ſche ſs, das er noch 1852 gegen Weinhold vertheidigte, läſst er ganz fallen, und bedauert offen, es jemals anerkannt zu haben. Für dasſelbe weiß Vernaleken nichts zu ſagen als, daſs es „einzelne vorgeſchlagen“ hätten; gegen dasſelbe macht er geltend, daſs es große Verwirrung anrichte und ſogar die Abſtammung entſtelle.“ Er kehrt alſo zur Gottſched-Adelung’ſchen Schreibung zurück. Den orthographiſchen Frieden will er übrigens dadurch herſtellen, daſs er die Anſicht geltend macht, es gebe in der deutſchen Orthographie ein „neutrales Gebiet“, und „dahin gehöre alles, was mit Berechtigung in zweifacher Form auftreten darf.“ Damit bezeichnet Vernaleken allerdings den richtigen Geſichtspunkt für unſere Zeit des Schwankens, des Ueberganges, wo das eine ſeine Berechtigung aus der Wiſſenſchaft, das andere aus dem Gebrauche ableitet, und man oft nicht ſagen kann: „die eine Form iſt abſolut richtig, die andere iſt fehlerhaft.“ Da hilft nichts als das Zugeſtändnis: „Beides ſoll neben einander geduldet werden, und die mit der Zeit wachſende Erkenntnis wird ausgleichend wirken.“ Nach dieſem Grundſatze hat Vernaleken ſein „kurze orthographiſches Wörterbuch zum Nachſchlagen in zweifelhaften Fällen der Rechtſchreibung“ (Wien 1864) bearbeitet. Es entſpricht zwar dem gegenwärtigen Stande der Sprachforſchung, aber nicht dem der orthographiſchen Bewegung, da ſich der Verfaſſer in einem Kardinalpunkte zu einem Rückſchritt verleiten ließ.
Bund für vereinfachte rechtschreibung (BVR)
Orthographisches Wörterbuch
- autor
- Vernaleken, Theodor
- titel
- Orthographisches Wörterbuch.
- untertitel
- Zum Nachschlagen in zweifelhaften Fällen der Rechtschreibung.
- verlag
- Beck'sche Universitäts-Buchhandlung
- ort
- Wien
- datum
- 1869
- umfang
- IV, 136 s.
- schrift
- fraktur
- titel
- digitalisiert
- books.google.com
- verweis
- einzelne fremdwörter im wörterverzeichnis
Inhalt
Vorwort |
III |
|
Einleitung |
1 |
|
I. |
Geschichtliches |
9 |
II. |
Das neutrale Gebiet |
9 |
III. |
Über s und ß |
21 |
IV. |
Über ie, ier, ieren |
23 |
wörterverzeichnis |
25 |
|
Nachwort |
135 |
Auszug: Vorwort
Schüler und Lehrer, Beamte und Geſchäftsleute kommen gar oft in den Fall, daß ſie über ein Wort Auskunft haben möchten, zumal in einer Zeit, wo ſo viel von einer „neuen“ Rechtſchreibung geſprochen wird. Da die wenigſten in der Lage ſind, ſich an die Quellenſchriften zu wenden, ſo ſoll vorliegendes Büchlein etwaige Zweifel kurz beantworten, und ich wünſchte, daß auch germaniſtiſche Fachmänner damit zufrieden ſein könnten, da ich von dem Stande der gegenwärtigen Sprachforſchung mich habe leiten laſſen. Zugleich kenne ich aus langer Erfahrung alle die Fälle, wo mehr oder weniger Unſicherheit herrſcht. Sie erſcheinen hier kurz und alfabetiſch verzeichnet.
Nachwort
Es ſind hier die möglichen Fragen beantwortet, wie man ein Wort ſchreiben muß und wie man in gewiſſen Fällen ſchreiben darf. Das iſt freilich nicht Uniformierung nach franzöſiſcher Art, gegen die neulich ſelbſt ein Franzoſe (A. F. Didot) aufgetreten iſt. Unſere Sprache iſt viel zu urwüchſig, reich und mannigfaltig, als daß alles über einen Kamm geſchoren werden dürfte. Dagegen braucht der Unterricht in der Volksſchule eine gewiſſe Einheit, nur muß ſich dieſe wiſſenſchaftlich rechtfertigen laſſen. Wenn aber eine Behörde etwanige Miſſbräuche in der Schule regeln will, ſo ſollte ſie ſich mit andern deutſchen Behörden in Verbindung ſetzen, damit nicht jeder deutſche Landestheil für ſich eine Schreibung feſtſetzt. Dabei iſt nicht zu überſehen, daß in einer lebenden Sprache eine ſtarre Feſtſetzung der Wortgeſtalt nicht zuläßig iſt und daß man den Knoten nicht zerhauen, ſondern ihn löſen muß. Woher kommt übrigens die Schwankung in unſern Zeitungen und Büchern? In den meiſten Fällen daher, daß die Schreibenden entweder das bereits wiſſenſchaftlich Feſtgeſtellte nicht kennen oder es nicht befolgen. Erzwingen läßt ſich hier nichts, und fehlt man in der Schulſtube, ſo iſt Belehrung das einzige Mittel.
Aus dem Vorhergehenden erſieht der Fachmann, daß für die Schreibung deutſcher Wörter mein Platz im linken Centrum iſt und daß ich für entlehnte Wörter der italieniſchen Weiſe mich nähere. Darüber läßt ſich rechten, aber ſoviel iſt ſicher, daß bis heute noch nicht zwei Germaniſten in allem übereinſtimmen und daß es nicht leicht einem gelingen wird, die Grenzlinie zu ziehen z. B. zwiſchen den ganz oder nur theilweiſe eingebürgerten Fremdwörtern.
Kennſt du, mein Numicius, Beſſeres, ſo theile freundlich es mit, wo nicht – his utere mecum.“ (Hor. Ep. 1. 6.)