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Bund für vereinfachte rechtschreibung (BVR)

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Schweizer Orthographische Konferenz

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28 Jahre zeigen:
Die Rechtschreibreform ist irreparabel.

Manifest der Schweizer Orthographischen Konferenz, lanciert an ihrer 10. Versammlung am in Zürich

broschiert A5, 43 seiten

Der verein «Schweizer Orthographische Konferenz» (SOK) präsentierte dieses manifest im rahmen einer tagung unter dem titel «Recht­schreibung – Schlecht­schreibung – Gerecht­schreibung. Wer darf der Sprache, d.h. den Sprechenden, Vorschriften machen?» Der Bund für vereinfachte recht­schreibung lehnt das manifest ab. Als vermutlich einzige institution geben wir es hier im wortlaut wieder und nehmen ausführlich stellung.

Original: schweizer version. Zusätzlich gibt es versionen mit her­kömmlichem ß und reform-ß.

Weiten Kreisen der Bevölkerung ist heute nicht mehr bewusst, dass am 1. Juli 1996 die Bildungsbehörden der deutschen Sprachgemeinschaft (v.a. die deutsche KMK, das österreichische BMBWF und die schweizerische EDK) in einer Gemeinsamen Absichtserklärung zur Neuregelung der deutschen Rechtschreibung eine Reform beschlossen haben, die am 1. August 1998 in Kraft gesetzt, bis 2006 mehrfach modifiziert und schliess­lich für «amtlich» verbindlich erklärt wurde. Hingegen wissen alle und er­fahren es täglich, dass in Sachen Rechtschreibung in der deutschsprachigen Bevölkerung eine flächendeckende Verunsicherung herrscht. Der Grund dafür ist die Tatsache, dass seit der Reform die Einheitlichkeit der deutschen Rechtschreibung massiv gestört ist. Dies geht zum Beispiel aus den ersten Zeilen des «Leitfadens zur deutschen Rechtschreibung» der Schweizerischen Bundeskanzlei hervor (4. Aufl., Bern 2017, S. 6):

«Wer in der Bundesverwaltung Texte verfasst, muss sich an die Regeln des Leitfadens zur deutschen Rechtschreibung halten. […] Ob sich die Verfasserinnen und Verfasser amtlicher Texte auch im Privaten daran halten wollen, ist ihnen hingegen freigestellt.»

Und da die Leitung unserer Bundeskanzlei ihren Mitarbeiterinnen und Mit­arbeitern bestimmt nicht unterstellen will, sie seien in ihren privaten Tex­ten in Sachen Orthographie nachlässig oder bevorzugten dort in unkriti­scher Weise schlechtere Schreibweisen als in ihren amtlichen Texten, gibt sie sogar indirekt zu, dass die amtliche Rechtschreibung nicht einmal sicher die beste aller heute angewandten deutschen Rechtschreibungen ist. Welche Existenzberechtigung aber hat eine amtliche Rechtschreibung, die in der Schule gelehrt und in der staatlichen Verwaltung verwendet wer­den muss, wenn sie nicht mit Sicherheit die bestmögliche ist? Und das ist sie tatsächlich bei weitem nicht. Wie könnte sie es auch sein? Sie ist ja weder in der Planung vor 1996, noch bei der Überarbeitung ab 2000, noch vor der Inkraftsetzung in ihrer jetzt gültigen Form 2006 jemals durch irgendwelche demokratischen Prozesse evaluiert und legitimiert worden, sondern wurde von einer kleinen Gruppe von Germanisten ersonnen, nie einer wissenschaftlichen Peer review unterworfen und von den politischen Exekutiven vorschnell und unbesehen durchgesetzt. Dieses Skandalon wollen wir mit diesem Manifest wieder in Erinnerung rufen, ferner zeigen wir auf, wo die Probleme liegen und wie wir aus der misslichen Lage endlich wieder hinausfinden können.

Auch der Schweizerischen Bundeskanzlei gelingt es typischerweise nicht, ihrem Leitfaden Genüge zu tun: In der ausgezeichneten, aufwendig gestalteten Broschüre «Der Bund kurz erklärt – 2024» schreibt sie auf S. 51 (im Abschnitt über die immer wieder geforderte Volkswahl des Bundesrats):

Jedesmal entschieden sich Volk und Stände dagegen.

Jedesmal aber ist ein Wort, das 1996 durch die Reformer abgeschafft, weder 2006 noch später je wieder erlaubt wurde und somit bis heute in amtlicher Rechtschreibung verboten ist. Niemandem in der Kanzlei in Bern ist aufgefallen, dass es in den Text hineingerutscht war, weil eben fast alle Deutschsprachigen dieses uralte und bestens bewährte Wort auch noch nach fast dreissig Jahren Reform munter weiterverwenden und deshalb auch praktisch täglich irgendwo lesen. Die genannte Broschüre, mit einer Auflage von 100'000 gedruckten Exemplaren, einer herunterladbaren PDF-Version und einer App («CH info»), wird das bedrängte Wort in seinem erfolgreichen Überlebenskampf nun ebenfalls ein wenig unterstützen.

Da eine solche Verunsicherung in Sachen Rechtschreibung in der deutschsprachigen Bevölkerung während des ganzen 20. Jahrhunderts nicht annähernd existiert hatte, sind sich alle, die die Abläufe der letzten dreissig Jahre aus unabhängiger Warte verfolgt haben, längst einig, dass die Reform daran die «Hauptschuld» trägt und somit ein gewaltiger Fehler war. Und da die Verunsicherung in den letzten zwanzig Jahren in keiner Weise abgenommen hat, ist es offensichtlich, dass auch die Massnahmen der Bildungspolitiker, die Probleme der Reform in den Griff zu bekommen, nichts zur Verbesserung der Situation beigetragen haben. Ihre diesbezügliche «Strategie» bestand darin,

  • 2004, nach acht Jahren heftigster Debatten und juristischer Gefechte, die Reform einem neu gegründeten, rund 40köpfigen Rat für deutsche Rechtschreibung zur Korrektur anzuvertrauen,
  • den Rat jedoch schon 2005 mitten in seiner Arbeit zu unterbrechen,
  • 2006 das rudimentär überarbeitete «amtliche Regelwerk» zu publizieren und für die Schule und die staatliche Verwaltung für verbindlich zu erklären,
  • denselben Rat zum Hüter dieser «korrigierten» Rechtschreibung zu ernennen (ohne zeitliche Befristung),
  • feierlich den «Rechtschreibfrieden» zu verkünden
  • und sich künftig nicht mehr einzumischen, sondern nur noch von Zeit zu Zeit eine neue Auflage des Regelwerks durchzuwinken.

Niemand, der weiss, wie Menschen funktionieren, wird sich unter diesen Umständen wundern, dass der Rat seither an seinen 2006 durch die Politik für amtlich gültig erklärten Regeln nicht das geringste verändert hat und sich bemüht, in seinen Verlautbarungen die Verunsicherung der Bevölkerung in Sachen Rechtschreibung kleinzureden, die Mängel des gültigen Regelwerks zu vertuschen und sich für seine Aktivitäten, mit denen er die zu seiner Selbsterhaltung nötige Präsenz markiert, Nebenschauplätze zu schaffen. Das hat sich soeben wieder gezeigt: Das im Juli neu veröffentlichte Regelwerk 2024, in den Worten des Rats «eine grundlegende Neubearbeitung» (rechtschreibrat.com), bringt in Wahrheit in den zentralen Reformbereichen gegenüber dem Stand 2006 erneut keinerlei Änderungen – ausser dass ein paar Reformvarianten wie Jogurt und Spagetti, die ohnehin kaum jemand verwendet hat, wieder verschwunden sind.

Wir wollen nicht verschweigen, dass die Reform ein durchaus menschenfreundliches Ziel hatte. Sie sollte nämlich das Schreiben vereinfachen. Dies war aber eine Illusion, das Ziel wurde nicht nur nicht erreicht, sondern das Schreiben ist deutlich schwieriger geworden: Früher genügte es, sich eine Normalschreibung zu merken (zum erstenmal, ein paarmal, ein dutzendmal, ein andermal, am schönsten, aufs schönste, zum besten halten, nichtssagend, tiefgekühlt). Heute müssen alle, auch Anfänger und Wenigschreiber, erstens die gültige Normalschreibung kennen (zum ersten Mal, ein paarmal, ein Dutzend Mal, ein andermal, am schönsten, aufs Schönste, zum Besten halten, nichtssagend, tiefgekühlt), zweitens müssen sie sich zusätzlich merken, wie man nicht schreiben darf (zum erstenmal, zum Erstenmal, ein Paarmal, ein dutzendmal, ein Dutzendmal, ein ander Mal, ein Andermal, am Schönsten, zum besten halten, tief gekühlt), und drittens sollten sie auch wissen, ob und wie man noch anders schreiben darf (ein paar Mal, ein dutzend Mal, aufs schönste, nichts sagend). Die vom Rat für Rechtschreibung in seinem Regelwerk formulierten und vom Duden verbreiteten Regeln nur schon für diese paar Beispiele sind selbst für Spezialisten unverständlich.

Die Schweizer Orthographische Konferenz (sok.ch), eine private, einfache Gesellschaft, formierte sich 2006, als klar wurde, dass die Reform der Reform die Rechtschreibung nicht wieder einheitlicher, sprachrichtiger und leserfreundlicher machen, sondern im Gegenteil massiv weiter verschlimmern würde. Neu war damals vor allem, dass hunderte herkömmliche Schreibungen, die bis 1996 unangefochten gültig gewesen, dann aber durch die Reform für falsch erklärt und ersetzt worden waren, unter dem Druck der Bevölkerung wieder erlaubt werden mussten. Die heftig kritisierten Reformschreibungen wurden dabei aber – mit Ausnahme von es tut mir Leid und zwei, drei anderen – nicht wieder abgeschafft. Seither stehen zahllose Paare von Schreibungen als «Varianten» zueinander in Konkurrenz. Mit ihrer pragmatischen Empfehlung «Bei Varianten die herkömmliche!» sah sich die SOK mit vielen sprachbewussten Medien und Verlagen einig, denn dies sorgte (und sorgt bis heute) wenigstens innerhalb einzelner Texte, Zeitungen, Bücher oder ganzer Verlagsprogramme für ein Minimum an Kontinuität und Einheitlichkeit. Darüber hinaus empfahl die SOK sogleich gewisse besonders verfehlte oder unnötige Reformregelungen zur Ablehnung (z. B. Grossschreibungen wie im Voraus, jeder Einzelne; ä statt e in Gräuel, Gämse, behände usw.; die Abschaffung der Wörter jedesmal und greulich). In diesen letzteren Punkten haben die allermeisten anderen Kritiker der Reform in der Zwischenzeit vor der amtlichen Trutzburg, die die Politik 2006 für die Reform gemauert hat, teilweise oder ganz kapituliert. Die SOK aber hält die gültige Regelung der deutschen Rechtschreibung nach wie vor für unbefriedigend, ja geradezu schädlich, und zwar aus folgenden Gründen:

  • Verschiedene Schreibvarianten für dasselbe sind in einer Rechtschreibung aus Prinzip unerwünscht, denn sie hemmen bei jedem Vorkommen, egal ob die ältere oder die jüngere Variante verwendet ist, den Lesefluss und lenken jedesmal einen grossen Teil der Leserinnen und Leser ein wenig vom Inhalt des Textes ab. Varianten gab es zwar schon immer, früher waren sie aber extrem selten und betrafen entweder Fälle von im Übergang begriffenen Schreibungen (wie zur Zeit tendentiell → tendenziell), die meist nach wenigen Jahrzehnten «gelöst» waren, oder solche, bei denen grundsätzlich zwei Schreibungen möglich sind: Sie spricht (akzentfrei) deutsch / Sie spricht (akzentfreies) Deutsch. Die Reform der Reform aber hat 2006 mutwillig für eine grosse Zahl teils sehr häufig verwendeter Wörter oder Ausdrücke solche Schreibvarianten geschaffen, und der Rat für Rechtschreibung hat seither nichts zur Verbesserung dieses höchst ungünstigen Zustands getan.
  • Die Reform der Reform hat 2006 sehr viele seit über hundert Jahren (und zum Teil noch viel länger) bewährte Schreibungen, die 1996 abgeschafft worden waren, nicht wieder erlaubt, so dass sie seither gegen die «amtlich» vorgeschriebenen und vom Rat für Rechtschreibung gehüteten Reformschreibungen mit deutlich kürzeren Spiessen kämpfen müssen. Diese unfaire Behandlung betrifft unter anderem die bekannten Fälle wie Gemse / Gämse sowie wesentliche Teile des Bereichs Gross- und Kleinschreibung, der sich seit der Reform in einem besonders desolaten Zustand befindet. (Siehe dazu die unten auf dieses Manifest folgende Analyse!) Dies ist noch schlechter als zwei erlaubte Varianten, weil auf diese Weise die Sprachgemeinschaft nicht einmal die Möglichkeit hat zu signalisieren, welche Schreibweise sie besser findet.
  • Im Bereich der Getrennt- und Zusammenschreibung, wo die Reform 1996 in ihrem Bestreben, das Schreiben zu erleichtern, hunderte Wörter aufgetrennt hatte (z. B. stromsparend →Strom sparend, sogenannt → so genannt), wurden die allermeisten herkömmlichen Zusammenschreibungen 2006 als sogenannte Varianten wieder erlaubt. Sie sind heute längst wieder deutlich beliebter als die von der Reform eingeführten Getrenntschreibungen und werden auch vom Duden wieder empfohlen. Der Rat für Rechtschreibung aber zeigt keinerlei Bereitschaft, dies durch Abschaffung der Getrenntschreibung anzuerkennen, ja er nennt die erfolglose Reformschreibweise in seinem amtlichen Regelwerk weiterhin durchgehend als erste Variante und suggeriert damit, sie sei zu bevorzugen. Damit garantiert er die Uneinheitlichkeit der Rechtschreibung!
  • In den Fällen wie wohl bekannt / wohlbekannt, in denen Getrennt- und Zusammenschreibung schon vor der Reform existierten, jedoch zwei verschiedene Betonungen und Bedeutungen wiedergaben, musste der Rat zwar die durch die Reform abgeschaffte Zusammenschreibung 2006 wieder erlauben, weigerte sich aber, dieser auch ihre angestammte Bedeutung wieder exklusiv zuzugestehen. So können wir, wenn wir Dies ist ihnen wohl bekannt lesen, weiterhin nicht erkennen, was gemeint ist: (1) «bestens bekannt» (betont wohlbekannt und herkömmlich zusammengeschrieben) oder (2) «vermutlich bekannt» (betont wohl bekannt und herkömmlich getrennt geschrieben). Auch bei diesen Fällen macht der Rat keinerlei Anstalten, korrigierend einzugreifen.

Die meisten Kritiker der Reform regen sich über Fälle wie Stängel statt Stengel, Gämse statt Gemse, Schifffahrt statt Schiffahrt, die farbigs-te statt die farbig-ste auf. Es sind aber nicht so sehr diese eher seltenen Fälle, so unnötig ihre Änderung war, sondern vor allem die soeben genannten systematischen, stark multiplikativ wirkenden Eingriffe der Reform in das harmonisch gewachsene Ganze, die sich so destruktiv auswirken und die deutsche Rechtschreibung seit bald dreissig Jahren in den Augen der Bevölkerung als etwas Zerrüttetes, Unlogisches, Unlernbares und somit Irrelevantes und Vernachlässigbares erscheinen lassen. Dass sie das früher nicht war und auch heute nicht sein müsste, wissen je länger je weniger Leute.

Weiter hält die SOK fest: Das Hauptziel der Reform, das Schreiben zu vereinfachen, ist nicht nur verfehlt worden, sondern es ist heute, wo uns digitale Korrekturprogramme die Schwierigkeiten des Schreibens weitgehend abnehmen, auch überholt. Umso dringender ist es nun, die deutsche Rechtschreibung wieder in einen Zustand der Klarheit, Einheitlichkeit und Sprachrichtigkeit zurückzuführen, wo verständliche Regeln gelten und ungestörtes Lesen wieder möglich wird. Auch die digitalen Korrekturhilfen können ihren Nutzen nur in einer möglichst variantenfreien Rechtschreibung optimal entfalten.

Der Rat für Rechtschreibung hat auch dies noch nicht erkannt. Seit achtzehn Jahren unternimmt er nichts, um den von ihm selbst herbeigeführten und 2006 von der Bildungspolitik abgesegneten misslichen Zustand der Rechtschreibung zu verbessern, sondern sieht seine Hauptaufgabe offenbar darin, die Reformschreibungen vor den herkömmlichen zu schützen. Wenn die Reformschreibungen das nötig haben, so sind sie offenkundig untauglich, und die Reform 1996 und ihre Reform 2006 sind als von A bis Z gescheitert zu bezeichnen.

Die SOK appelliert deshalb erstens an die deutsche Sprachgemeinschaft, diese Sackgasse zu verlassen und sich die Hoheit über die Rechtschreibung, die ihr die Bildungspolitiker 1996 entrissen haben, wieder zurückzuholen, indem sie die Gebote und Verbote der Reform künftig ignoriert. Der Verlust an Mühe, Zeit und Geld, den diese Reform gebracht hat, ist zwar bedauerlich. Aber wir haben alle viel dabei gelernt, und was sind schon 28 Jahre in der weit über tausendjährigen Geschichte der deutschen Sprache!

Dabei wäre es allerdings sehr hilfreich, wenn zweitens die Bildungspolitiker bereit wären, auf die Verantwortung für die Rechtschreibung, die sie 1996 unbedachterweise an sich gezogen haben, ganz offiziell wieder zu verzichten. Sie haben sich an dem Thema – viele von ihnen persönlich und alle miteinander als Institution – wahrhaftig genügend die Finger verbrannt und schliesslich offen zugeben müssen, dass die Reform ein Fehler war und sie selber darin eine ziemlich unrühmliche Rolle gespielt haben. (Die Einzelheiten dazu in der unten folgenden Analyse!) Seither befindet sich die deutsche Rechtschreibung in den Reformbereichen inhaltlich in einem erbärmlichen Zustand und politisch in einer systembedingten Blockade. Die SOK vertraut darauf, dass die inzwischen angetretene jüngere Politikergeneration diesen schädlichen Zustand erkennt und gewillt ist, eine Lösung der Blockade zuzulassen.

Es ist aber durchaus zu erwarten, dass sich gegen dieses Manifest erheblicher Protest erheben wird, nicht nur aus dem Rat für Rechtschreibung, sondern auch aus den Verwaltungen und aus dem Bildungssektor. Viele werden sagen: «Jetzt hat sich doch alles so schön eingespielt – also nur ja nicht schon wieder eine Änderung!» Solchen Stimmen halten wir entgegen, dass nach der im folgenden vorgeschlagenen Vorgehensweise niemand irgend etwas anders schreiben muss, als er oder sie es gewohnt ist, und niemand irgendwelche neuen Vorschriften lernen muss, sondern dass wir im Gegenteil viele schwerverständliche Schreibgebote und -verbote wieder vergessen dürfen. Es wird nämlich alles ganz von selbst gehen! Höchstens werden wir aller Voraussicht nach wieder deutlich häufiger Gemsen beobachten können, Gämsen dafür seltener, und auch andere herkömmliche Schreibungen, die den Älteren unter uns völlig vertraut sind und auch den Jüngeren nicht ganz unbekannt sein können, werden wieder häufiger zu sehen sein. Darin wird niemand im Ernst etwas Schädliches finden können. Nur den Exekutivpolitikern, die im Zweifelsfall lieber mehr als weniger Kontrolle ausüben, möchten wir mit der folgenden universell gültigen Einsicht ins Gewissen reden und gleichzeitig für ihre anstehende Entscheidung Mut machen:

Es ist praktisch ausgeschlossen, dass ein Staat eine Rechtschreibreform – vor allem eine mit grösstenteils frei erfundenen und nutzlosen Vorschriften – in seiner schreibenden und lesenden Bevölkerung durchzusetzen vermag. Sicher ist nur, dass er mit einem solchen Versuch – und je länger dieser dauert, desto nachhaltiger – der schriftlichen Kommunikation, der sprachlichen und generellen Bildung der gesamten Bevölkerung, der Literatur und letztlich sogar der Sprache selbst enormen Schaden zufügt. Unsere deutsche Sprache, die weltweit ohnehin keinen leichten Stand hat, und wir alle, die deutsche Sprachgemeinschaft, haben das nicht verdient!

Die SOK ist nach den Erfahrungen und Beobachtungen der letzten achtzehn Jahre endgültig zum Schluss gekommen, dass die Reform 1996/2006 irreparabel ist und es keine andere Lösung gibt als: «Zurück an den Start!» Und sie wagt schon heute folgende Vorhersage: Sobald die Bevölkerung einmal zur Kenntnis genommen hat, dass die durch die Reform eingeführten Vorschriften nichtig sind, und sieht, dass die Reformvarianten nicht mehr einseitig gefördert werden, sondern sich in fairem Wettbewerb den herkömmlichen Schreibungen stellen müssen, wird es höchstens zwei, drei Jahre dauern, bis auch in den Fällen der heute noch verbotenen herkömmlichen Schreibungen klar ersichtlich wird, ob sie oder die Reformschreibungen beliebter sind, und die erstrebenswerte, heute von Staates wegen verhinderte Balance in der Rechtschreibung sich wieder einzustellen beginnt. Aufgrund der erwähnten Erfahrung, dass die herkömmlichen Zusammenschreibungen, seitdem sie wieder erlaubt sind, die Getrenntschreibungen der Reform an Beliebtheit innert kürzester Zeit weit hinter sich gelassen haben, dürfen wir dies auch für die meisten anderen herkömmlichen Schreibungen erwarten. Damit dann aber wirklich wieder eine einheitliche Rechtschreibung entstehen kann, braucht es anschliessend ein handlungsfähiges Gremium, das sich erlauben kann, Schreibvarianten, wenn sie weniger beliebt sind, explizit zur Nicht-Verwendung zu empfehlen.

Dass in den Schulen lange Toleranzfristen nötig sein werden, versteht sich von selbst. Darüber werden sich die Lehrkräfte mindestens so sehr freuen wie die Kinder und Eltern. Überhaupt soll der Unterricht in Rechtschreibung vor allem aus Erklären und Üben bestehen; das geht allerdings nur, wenn die Regeln einer Rechtschreibung möglichst sparsam, sprachrichtig und einheitlich sind. Fehler mit schlechten Noten zu sanktionieren war dagegen schon immer kontraproduktiv.

Konkret empfiehlt die SOK, folgendermassen vorzugehen (eine etwas ausführlichere Beschreibung findet sich am Ende der nachfolgenden Analyse):

  1. Die noch verbotenen herkömmlichen Schreibungen werden pauschal wieder gestattet, das amtliche Regelwerk samt seinem Wörterverzeichnis ausser Kraft gesetzt und der Rat für deutsche Rechtschreibung aufgelöst. Auf den Status der «Amtlichkeit» der Rechtschreibung wird ein für allemal verzichtet; er ist für diese so unnötig wie für die Sprache selbst.
  2. Mittels umfassender Aufklärung vor allem durch die Medien wird dafür gesorgt, dass jede Favorisierung der Reformschreibungen aufhört und fortan die freie Wahl zwischen diesen und den herkömmlichen Schreibungen gewährleistet ist, auch bei der ß-Verwendung. Die von der Reform nicht betroffenen Bereiche der Rechtschreibung werden vorderhand in Ruhe gelassen.
  3. Als Hilfsmittel, um die herkömmliche Schreibung wieder besser bekannt zu machen, empfiehlt die SOK für eine erste Orientierung ihren «Wegweiser» (3., vollständig überarbeitete Auflage, Oktober 2024). Angaben zu weiteren Hilfsmitteln und aufgeschaltete Werke werden sich in naher Zukunft ebenfalls auf der SOK-Webseite finden.
  4. Eine «Stiftung für deutsche Rechtschreibung» wird errichtet. Die Mittel kommen zu zwei Dritteln aus der Privatwirtschaft und zu einem Drittel aus der öffentlichen Hand.
  5. Nach vier Jahren wird eine gleich zusammengesetzte neunköpfige «Forschungsgruppe für deutsche Rechtschreibung» gebildet, deren Arbeit durch die Stiftung finanziert wird.
  6. Die Forschungsgruppe erhebt die Beliebtheit der Varianten und formuliert, unter Berücksichtigung des Gesamtsystems der Sprache, kurzgefasste und allgemeinverständliche «Empfehlungen».
  7. Sie passt diese alle fünf Jahre an und lässt dabei deutlich weniger beliebte, d. h. «veraltete» Varianten bald weg.

Das gemeinsame Ziel unserer ganzen deutschen Sprachgemeinschaft muss sein, dass die Rechtschreibung unserer Standardsprache möglich rasch wieder so selbstverständlich und unauffällig wird, dass der Blick wieder ungehindert auf den Inhalt und die Sprache der Texte fallen kann. Eine gute Rechtschreibung ist so unsichtbar wie sauber geputzte Fensterscheiben eines Panoramarestaurants in den Alpen. Und das Fensterputzen besorgen wir von jetzt an wieder selbst, wir Deutschsprachigen alle miteinander!

23. Oktober 2024

Für die Arbeitsgruppe der SOK: