Bund für vereinfachte rechtschreibung (BVR)
Empfehlung zur Einführung der Vollkleinschrift
Eingabe an den Bundestag. Hans Neßler, 1970
12. Mai 1970
An den
Ausschuß für Bildung und Wissenschaft
des Deutschen Bundestages
zu Händen seines Vorsitzenden
Herrn Prof. Dr. Ulrich Lohmar
Betr.: Empfehlungen zur Erleichterung der mit Hand oder auf Maschine geschriebenen Rechtschreibung bei Schulen und Behörden
Der Unterzeichnete bittet zu prüfen, ob der Ausschuß dem Deutschen Bundestag vorschlagen kann, den Wortlaut der folgenden Empfehlung befürwortend an die obersten Aufsichten der Schulen und Behörden weiterzugeben:
„Empfehlung zur Einführung der Vollkleinschrift
Zur Arbeitserleichterung und -beschleunigung wird den Schulen und Behörden empfohlen, beim Schreiben mit der Hand oder auf der Maschine Vollkleinschrift nach dem Vorbild der Fernschreiber anzuwenden. Das Drucken bleibt hiervon unberührt. Die deutschen Buchstaben ä, ö, ü und ß sind beizubehalten.
In der Deutschen Vollkleinschrift gilt die Schreibweise des Dudens mit folgenden zwei Ausnahmen:
1. Man schreibt nur Kleinbuchstaben,
2. daß (dass) wird wie das geschrieben.
Folgende vier Nebenregeln lassen sich anwenden, falls für erforderlich gehalten:
a) Hinter satzschließendem Punkt verdoppelt man den Abstand (d. h. zwischen Wörtern einfacher Abstand, ein Leeranschlag wie bisher; zwischen Sätzen doppelter Abstand, zwei Leeranschläge).
b) Sätzen, die auf einer folgenden Seite oder sonst ohne sichtbaren Zusammenhang beginnen, schickt man einen Punkt voraus.
(Z. B. .er tat es).
c) Anredefürwörtern, die man bisher aus Höflichkeit groß schrieb, setzt man einen Kleinstrich ohne jeden Abstand vor oder unterstreicht ihren ersten Buchstaben. (-sie, -ihnen oder sie, ihnen).
Der hervorhebende Strich als Mittel der Schrift hilft auch in den Fällen einer zusammenhanglosen Aufzählung von Wörtern, oder, was man bisher in der Rechtschreibung nicht kann, ein Substantiv am Satzanfang als solches kenntlich zu machen:
unterernährte und kranke kinder: ein Personenkreis gegen
unterernährte und kranke kinder: zwei Personenkreise.
Besser ist es hier aber, da Sprache nach Gehör und nicht allein nach der Rechtschreibung verständlich sein sollte, zu sagen:
unterernährte menschen und kranke kinder …
d) Behörden, besonders Finanz und Justiz, schreiben im Publikumsverkehr die Vor- und Familiennamen von Empfängern weiterhin groß.“
Zur Erläuterung und Begründung der Empfehlung folgen Ausführungen über die Geschichte und die gegenwärtige Lage unserer Rechtschreibung.
gez. Hans Neßler
Die theoretischen Grundlagen für unsere heutige Großschreibung stammen aus dem Jahr 1653, als ein Schuldirektor in Thüringen nach dem Muster seiner Lateingrammatik eine deutsche Sprachkunst auf den Markt brachte. Damals wußte man noch wenig von der Theorie der Sprache und der deutschen Grammatik, noch weniger von den Aufgaben einer Rechtschreibung. Aber so klug war der Rektor doch, daß er neben allen Substantiven auch nach freiem Ermessen andere, betonte Wörter groß schreiben ließ. Die Buchdrucker, einst die freien Herren der Orthographie, tun das mitunter heute noch, obwohl sich der Duden an ein Schema hält.
Rechtschreibung im 17. Jahrhundert war im wesentlichen eine Sache der Gelehrten. Das Volk zählte wenig. Heute hat bei größtem Wortschatz jeder lesen und schreiben zu lernen, und man erwartet Vollkommenheit. Aber nicht jeder ist ein Gelehrter. Die zuständigen Kreise wissen das und richten sich nicht danach. Noch zu Anfang des 19. Jahrhunderts dekretierte man mit offener Begründung, daß die Kinder von kleinen Bauern und Tagelöhnern – wie einst die Arbeiter hießen – den Gymnasien fernzuhalten seien, damit die höheren Stände
(nach Klute, Orthographie und Gesellschaft, s. 64ff.).