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Bund für vereinfachte rechtschreibung (BVR)

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Petition von juristen zur beendigung des rechtschreibreform­projekts, 16. 2. 2004

Im Februar 2004

(Anrede),

nach Jahren der Erprobung der in der Gemein­samen Absichtserklärung zur Neuregelung der deutschen Recht­schreibung - Wiener Absichtserklä­rung - vom 1. Juli 1996 in Aussicht genommenen Rechtschreibreform zeigt sich in aller Deutlichkeit, daß das Vorhaben schwerwiegende Mängel auf­weist. Diese werden freilich bei einer nur ober­flächlichen Befassung mit dem Reformwerk und bei der Lektüre einfacher Texte nicht in ihrer ganzen Tragweite wahrgenommen. Manch einer, der in­zwischen meint, sich auf das neue Regelwerk ein­stellen zu müssen, schenkt denn auch den Be­teuerungen der Mitglieder der Rechtschreib­kom­mission Glauben, die reformierte Recht­schreibung komme mit nur 112 Regeln aus, die insgesamt in sich schlüssig und leicht erlernbar seien.

Eine gründliche Auseinander­setzung mit der Neu­schreibung zeigt jedoch, daß diese Beteue­run­gen alles andere als zutreffend sind. Der Mainzer Sprachwissenschaftler Werner H. Veith hat nämlich nachgewiesen, daß das neue Regelwerk ne­ben sei­nen Hauptregeln 1106 Anwendungs­bestim­mun­gen in Form von Unterregeln, Spezifikationen, Kann­bestim­mungen, Bedingungen, Listen und Ver­weisen umfaßt. Um das Reformwerk „korrekt“ anzuwen­den, müßte man diese auswendig lernen. Schon deshalb befürchten wir, die Unterzeichner dieser Petition, daß selbst nach Jahren der Erprobung niemand das neue Regelwerk beherrscht.

Im übrigen erschließt sich das Ausmaß an Un­professionalität, mit dem das Reformwerk angegan­gen wurde, erst bei eingehenderem Studium der einzelnen Regeln und Anwendungs­bestimmungen. Darauf mag es bei einfach gelagerten Texten nicht immer ankommen; die genaue Kenntnis ist aber bei komplizierteren Inhalten, etwa in Wissenschaft und Dichtung, unabdingbar. Die dann in Erscheinung tretenden gravierenden Mängel der Neuschreibung sind das Ergebnis einseitiger, verkürzter oder schlicht falscher Betrachtungen der deutschen Spra­che - von Grammatik, Semantik und Phonetik - so­wie unausgewogener Formel­kompromisse der ver­antwortlichen Kommissions­mitglieder. Die über­aus große Zahl der Mißgriffe macht das Reformwerk für komplexe Texte geradezu unbrauchbar. Die Recht­schreibung muß sich aber für sämtliche Textarten eignen. Schon dieser Umstand disqualifiziert das Reformwerk.

Da die geänderte Recht­schreibung in ihrer Ge­samtheit willkürlichen, der Sprache nicht gerecht werdenden Strukturen folgt, führt auch jede Re­form der Reform zu keinem vernünftigen Ergebnis. Dies gilt erst recht für die jüngst von der Recht­schreib­kommission vorgeschlagenen Änderungen, die sich einem rationalen Zugriff entziehen und das bereits angerichtete Chaos nur vergrößern. Deshalb halten wir es für unerläßlich, daß sich der Deutsche Bundestag, die deutschen Landtage, der Nationalrat der Republik Österreich sowie der Nationalrat der Schweizerischen Eidgenossenschaft mit diesem auf Verwaltungs­ebene beschlossenen Reformvorhaben befassen und seine Beendigung beschließen. Zu die­sem Zweck bitten wir Sie, die nachfolgende Petition an die für die Entscheidung zuständigen Gremien weiterzuleiten. Die Petition hat folgende Ziele:

  1. die Gemeinsame Absichtserklärung zur Neurege­lung der deutschen Recht­schreibung - Wiener Ab­sichts­erklärung - vom 1. Juli 1996 mit soforti­ger Wirkung zu kündigen;
  2. sämtliche zur Umsetzung der Wiener Absichts­erklärung erlassenen Regelungen umgehend auf­zuheben. Dabei ist den Schulen eine angemes­sene Übergangs­frist einzuräumen;
  3. darauf hinzuwirken, daß die mit der Recht­schreibreform befaßten Kommissionen von ih­ren Aufgaben zur Be­obachtung und Fort­ent­wicklung der Reform entbunden werden.

Gründe:

Nachfolgend weisen wir auf einzelne Haupt­mängel der reformierten Recht­schreibung hin und geben dafür einige wenige Beispiele an, die oft für eine Vielzahl anderer Un­gereimtheiten, System­brü­che oder Unrichtigkeiten stehen. Danach ma­chen wir auf einzelne Gesichts­punkte aufmerksam, auf Grund derer die umgehende Beendigung der Er­probung der neuen Recht­schreibung nicht nur möglich ist, sondern auch den einzig sinn­vollen Weg darstellt.

I. Defizite der Rechtschreibreform

Die erheblichen Defizite der Rechtschreib­re­form sind inzwischen in der öffentlichen Diskussion hinlänglich belegt:

Beispiele nicht mehr existierender Wörter:

alleinstehend, all­gemeinbildend, aufwärtsgehen, auseinandersetzen, bekanntmachen, bewußtmachen, dahinterkommen, fallenlassen, fertigbringen, fertigstellen; hängenbleiben, Handvoll, kennenlernen, laufenlassen, naheliegend, nahestehend, nebeneinandersitzen, nichtssagend, offenbleiben, richtigstellen, schiefgehen, schwerfallen, sitzenbleiben, sogenannt, stehenlassen.

Beispiele:

Der letzte Wille (auch im Sinn der letztwilligen Verfügung), aber: das Letzte Gericht; Pleite gehen, aber: pleite sein; recht machen, aber: Recht bekommen.

Beispiele:

Es tut mir sehr Leid; er hat Recht; es tut Not; im Übrigen; des Öfteren; des Weiteren; heute Morgen; gestern Abend.

Beispiele:

mithilfe, gesprochen aber: mit Hilfe; zurzeit, gesprochen aber: zur Zeit.

Beispiele:

Tee-nager, Seee-lefant, Obst-ruktion, Etatü-berschreitung, I-mage, vol-lenden, beo-bachten, vere-helichen, Preise-lastizität, Pressea-gentur, alla-bendlich, durcha-ckern, Hause-cke.

Beispiele:

Er ging gestern von allen wütend beschimpft zur Polizei. Er schwört vor dem Gerichtshof die volle Wahrheit gesagt zu haben.

Beispiele:

Flussschifffahrt, Prozessserie, Nachlasssache, Verschlusssache, Schlosserkundung, Schlammmassen, Messergebnis, Missstimmung.

Beispiele:

schnäuzen wegen Schnauze; verbläuen wegen blau; Gämse wegen Gams, aber Eltern trotz alt; Tollpatsch wegen toll; belämmert wegen Lamm; gräulich wegen Grauen (ebenso wie gräulich von grau); Rauheit wegen rau, aber Rohheit und Jähheit, dann jedoch: Hoheit.

Beispiele:

Not leidend (Bevölkerung), aber: notleidend (Kredit); Heil bringend und heilbringend, aber nur: Unheil bringend; Musik liebend und musikliebend, aber nur: tierliebend; Kosten sparend und kostensparend, aber nur: kostendeckend.

Beispiele:

Alptraum und Albtraum
Spaghetti und Spagetti

hoch begabt und hochbegabt (gleiche Bedeutung)
hochgesteckt (Haar) und hoch gesteckt (Ziel)
hochkonzentriert (Schüler) und hoch konzentriert (Säure)
hochgestellt (Zahl) und hoch gestellt (Persönlichkeit)

selbständig und selbstständig
imstande sein und im Stande sein
hierzulande und hier zu Lande
aufwendig und aufwändig
infrage stellen und in Frage stellen
wohl erzogen und wohlerzogen (gleiche Bedeutung)

Eine Kuriosität: das In-Kraft-Treten, aber: die Inkraftsetzung

Beispiele für häufig gemachte Fehler:

Strasse (statt Straße), Busse (statt Buße), Grüsse (statt Grüße), Schliessfach (statt Schließfach), ausserdem (statt außerdem); er weiss (statt er weiß); sie heisst (statt sie heißt).

Beispiele:

Orthografie (auch Orthographie)

englisch: orthography
französisch: orthographe

essenziell (auch essentiell)

englisch: essential
französisch: essentiel, le

Potenzial (auch Potential)

englisch: potential
französisch: potentiel

Katarr (auch Katarrh)

englisch: catarrh
französisch: catarrhe

Panter (auch Panther)

englisch: panther
französisch: panthère

Fassette (auch Facette)

englisch: facet
französisch: facette

Kommunikee (auch: Kommuniqué)

englisch: communiqué
französisch: communiqué

II. Mögliche Rückkehr zur bewährten Rechtschreibung

Die Rückkehr zur bewährten Recht­schrei­bung ist nicht nur möglich, sondern die allein sinn­volle Alternative zu den mit dem neuen Regel­werk verbundenen Problemen. Dies ergibt sich bereits aus folgenden Überlegungen:

III. Entscheidung durch die Parlamente

Die Entscheidung über die Rückkehr zur tra­dierten Recht­schreibung treffen sinnvollerweise die zuständigen Parlamente, da die Exekutive wegen ihrer Vorbefassung mit dem Reformwerk dazu nicht mehr geeignet erscheint.

Hinzu kommt, daß die für weite Teile der Sprach­gemeinschaft über­raschende Einführung des Reform­werks bei vielen Betroffenen den Eindruck der demokratisch nicht legitimierten Bevormun­dung durch die Exekutive hervorgerufen hat. Das deutsche Bundesverfassungs­gericht hat zwar im Hin­blick darauf, daß das neue Regelwerk grund­sätzlich keine rechtlichen Wirkungen entfaltet, ei­nen Verstoß gegen das Demokratie­prinzip nicht angenommen. Dies ändert politisch aber nichts an dem Umstand, daß die Aktivitäten der Kultus­ver­waltungen dem Vertrauen in die demokratisch legitimierte Staatsgewalt erheblichen Schaden zugefügt haben.

Aus Verantwortung für die deutsche Recht­schreibung, die deutsche Sprache und deren Bedeu­tung im internationalen Bereich fordern wir daher in Übereinstimmung mit den deutschen und aus­ländischen Schriftstellern, den deutschen Aka­demien der Wissenschaften und der Schönen Kün­ste sowie den Sprach- und Literatur­wissenschaft­lern an in- und ausländischen Universitäten ein­dringlich, umgehend wie beantragt zu entscheiden.

Professor Dr. Heinz-Dieter Assmann, Eberhard-Karls-Universität Tübingen
Professor Dr. Christian Berger, Universität Leipzig
Professor Dr. Dieter Blumenwitz, Julius-Maximilians-Universität Würzburg
Professor Dr. Winfried Brohm, Universität Konstanz
Professor Dr. Christian Calliess, M.A.E.S., LL.M. Eur, Georg-August-Universität Göttingen
Professor Dr. Dr. h.c. mult. Claus-Wilhelm Canaris, Ludwig-Maximilians-Universität München
Professor Dr. Wolfgang Däubler, Universität Bremen
Professor Dr. Steffen Detterbeck, Philipps-Universität Marburg/Lahn
Professor Dr. Ulrich Eisenhardt, Fernuniversität Hagen
Professor Dr. Hans Forkel, Julius-Maximilians-Universität Würzburg
Professor Dr. Gilbert Gornig, Philipps-Universität Marburg/Lahn
Professor Dr. Georgios Gounalakis, Philipps-Universität Marburg/Lahn
Professor Dr. Reto Hilty, Max-Planck-Institut für ausl. u. intern., Patent-, Urheber- und Wettbewerbsrecht München , Universität Zürich
Professor Dr. Martin Ibler, Universität Konstanz
Professor Dr. Dr. h.c. Othmar Jauernig, Universität Heidelberg
Professor Dr. Abbo Junker, Georg-Albrechts-Universität Göttingen
Professor Dr. Dr. h.c. Gerhard Kegel, Universität zu Köln
Professor Dr. Bernd-Rüdiger Kern, Universität Leipzig
Professorin Dr. Eva-Maria Kieninger, Julius-Maximilians-Universität Würzburg
Professor Dr. Winfried Kluth, Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg
Professor Dr. Rolf Knütel, Rheinische Friedrich-Wilhelm-Universität Bonn
Professor Dr. Helmuth Köhler, Ludwig-Maximilians-Universität München
Professor Dr. Stephan Korioth, Ludwig-Maximilians-Universität München
Professor Dr. Jan Kropholler, Max-Planck-Institut , Universität Hamburg
Professor Dr. Kurt Kuchinke, Julius-Maximilians-Universität Würzburg
Professor Dr. Stefan Lorenz, Ludwig-Maximilians-Universität München
Professor Dr. Heinz-Peter Mansel, Universität zu Köln
Professor Dr. Hartmut Maurer, Universität Konstanz
Professor Dr. Stefan Muckel, Universität zu Köln
Professor Dr. Joachim Münch, Georg-Albrechts-Universität Göttingen
Professor Dr. Dr. h.c.Thomas Oppermann, Eberhard-Karls-Universität Tübingen
Professor Dr. Eckhard Pache, Julius-Maximilians-Universität Würzburg
Professor Dr. Manfred Rehbinder, Universität Zürich
Professor Dr. Oliver Remien, Julius-Maximilians-Universität Würzburg
Professor Dr. Dr. h.c. mult. Claus Roxin, Ludwig-Maximilians-Universität München
Professor Dr. Bernd Rüthers, Universität Konstanz
Professor Dr. Matthias Ruffert, Friedrich-Schiller-Universität Jena
Professor Dr. Hans Schlosser, Universität Augsburg
Professor Dr. Reiner Schmidt, Universität Augsburg
Professor Dr. Helge Sodan, Freie Universität Berlin
Professorin Dr. Astrid Stadler, Universität Konstanz
Professor Dr. Olaf Sosnitza, Julius-Maximilians-Universität Würzburg
Professor Dr. Gerald Spindler, Georg-Albrechts-Universität Göttingen
Professor Dr. Dres. h.c. Klaus Stern, Universität zu Köln
Professor Dr. Rolf Stürner, Albert-Ludwigs-Universität Freiburg
Professor Dr. Arndt Teichmann, Universität Mainz
Professor Dr. Andreas Voßkuhle, Albert-Ludwigs-Universität Freiburg/Brsg.
Professor Dr. Heinrich de Wall, Universität Erlangen-Nürnberg
Rechtsanwalt Dr. Johannes Wasmuth, Lektoratsleiter in München
Professor Dr. Herbert Wiedemann, Universität zu Köln
Professor Dr. Dietmar Willoweit, Julius-Maximilians-Universität Würzburg
Professor Dr. Manfred Wolf, Johann-Wolfgang-Goethe Universität Frankfurt/Main
Professor Dr. Thomas Würtenberger, Albert-Ludwigs-Universität Freiburg/Brsg.
Professor Dr. Jan Ziekow, Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer

Zitiert nach www.rechtschreibreform.com, 16. 2. 2004; rechtschreibreform.com/PDF/200402Juristenpetition.pdf.