Die Argumente sind ausgetauscht, die Gemüter verhärtet, die Gerichte haben das Wort: Wie in Deutschland über die Rechtschreibereform gestritten wird, spottet nüchterner Beschreibung. […] Längst trägt der Reformstreit die Züge eines Glaubens-, ja Daseinskampfes. […] «Beneidenswert» nennt ein Ministerialrat im niedersächsischen Kultusministerium die Unaufgeregtheit, mit der in der Schweiz die orthographischen Neuerungen debattiert werden. […] Wenn […] die Reformgegner fordern, jede Neuregelung der Orthographie müsse sich innerhalb der «herkömmlichen Bahnen» bewegen, beanspruchen die Reformer, genau dies zu tun. […] Ihre Devise «Die Grundregeln stärken, den Wildwuchs der Ausnahmen beschneiden» wollen sie als ein Zurück zu den Ursprüngen verstanden wissen. […] So möchten, kurios genug, am Ende selbst Reformer als Traditionalisten dastehen.
Bund für vereinfachte rechtschreibung (BVR)
Aus presse und internet
1997-12-29
Eine echte Reform ist das Geplante nie gewesen. Bestenfalls ein Reförmchen. Aber selbst auf dieses kann man sich offensichtlich nicht einigen. […] Kann man dies alles überhaupt noch ernst nehmen? 1000 Fälle, in denen jeder nach Gusto so oder anders schreiben kann. Da bleibt selbst von dem vorgesehenen Reförmchen kaum noch etwas übrig. Das soll aber "für mehr Akzeptanz" sorgen, meinen besagte Experten. Pustekuchen, kann man da nur sagen. Lassen wir's dann doch besser ganz.
1997-12-27
Güthert und Heller bauen ihre Arbeit auf einem Teilvergleich auf, wobei sie sich auf die Einträge unter dem Buchstaben ”H” sowohl bei Duden als auch bei Bertelsmann beschränken. Es handelt sich dabei also gewissermaßen um eine Probebohrung, wobei sich ein nicht uninteressanter Seitenstollen auftut: Ein Vergleich zwischen dem Duden von 1991 und dem Knaur von 1992 (auf Knaur basiert der neue Bertelsmann) bringt ebenfalls etliche Differenzen an den Tag, obwohl doch damals die Rechtschreibwelt angeblich noch schwer in Ordnung war. […] Die Studie kommt zu zwei Ergebnissen. Zum einen rät sie den Wörterbuch-Redaktionen, nicht zu sehr auf ihre lexikographische Freiheit zu pochen […]. Zum anderen behaupten Kerstin Güthert und Klaus Heller, daß keine Hochrechnung dieser Welt aus der von ihnen eruierten Datenmenge eine Masse von einigen tausend Fehlern zu machen vermag.
1997-12-24
Die Frage, die der ansonsten so veraltete Roman [Orwell: "1984"] wieder einmal aufwirft, ist unverändert aktuell: Welche Lehrinhalte darf der Staat seinen Schulen vorgeben?
1997-12-17
Weniger Fehler ortet eine Studie des Unterrichtsministeriums bei jenen Schülern, die nach den neuen Rechtschreibregeln lernen.
1997-12-16
Der Diplom-Dolmetsch Dr. Hanns Hermann Bühler ist Lektor an der Universität Wien. […] Sich über die deutsche Rechtschreibung den Kopf zu zerbrechen, ist pure Zeitverschwendung. Die deutsche Orthographie ist verglichen etwa zur englischen und französischen viel phonetischer, daher wesentlich leichter zu erlernen. Die Groß- und Kleinschreibung ist vielleicht ihre wertvollste Eigenheit, hilft sie doch beim raschen Lesen und Verstehen eines Textes.
1997-12-13
Verunsicherung bei Schülern und Lehrern: Das wäre die Folge bei einer Rücknahme der Rechtschreibreform, meint die Initiative Schüler, Lehrer und Eltern. Der Start der neuen Rechtschreibung in Österreichs Schulen sei problemlos gelungen; hunderttausende Volksschulkinder würden durch eine Rücknahme der Rechtschreibreform zum Umlernen gezwungen.
1997-12-08
Die Schweizer dagegen schauen dem Streit um die neue Schreibweise weitgehend emotionslos zu.
1997-12-03
Das eigentliche Ärgernis aber ist ja nicht das schwächliche Reformwerk, sondern die absurde und gelegentlich an Hysterie grenzende Argumentation der von ihm in ein hektisch um sich schlagendes Leben gerufenen Gegnerschaft. So daß ein den Vorschlägen entgegengebrachtes Wohlwollen sich weniger deren Vernunft als vielmehr der Unvernunft der Gegner verdankt und einer soliden Abneigung gegen den Mißton ihres schrillen, fundamentalistisch sich gebärdenden Eiferertums.
1997-11-30
Erstmals beschäftigt sich ein Schweizer Gericht mit der deutschen Rechtschreibreform. […] Kläger vor der Zivilabteilung des Gerichtskreises VIII Bern-Laupen ist der ehemalige liberale Baselbieter Landrat Jacques Messeiller. Der 63jährige Rentner aus Binningen ärgert sich, dass die EDK "im Tempo des gehetzten Affen" die Kantone angewiesen habe, Lehrmittel nach neuer Rechtschreibung zu drucken. Er verlangt deshalb, dass die EDK im Sinne einer vorsorglichen Massnahme "sämtliche Schritte zur Einführung der neuen deutschen Rechtschreibung so lange sistiert, bis in der Bundesrepublik Deutschland ein endgültiger Entscheid in dieser Angelegenheit getroffen sein wird".
Siehe stellungnahme des Bundes für vereinfachte rechtschreibung!
1997-11-29
[…] man macht Konzessionen in Einzelheiten, um die Hauptsache zu retten […]. Diese Kunst, Ballast abzuwerfen (wie Bankräuber, die drei Säcke mit Münzen wegwerfen, damit die Verfolger sich balgen), haben die „Reformer” schon beim Hearing im Mai 1993 bewiesen, als sie die „gemäßigte” Kleinschreibung aufgaben, und im November 1995, als sie 39 Vorschläge (Frefel, Packet, Triumpf etc. ) zurücknahmen.
1997-11-28
Die Reform-Rebellen stammen ausschließlich aus rechtsnationalen Kreisen. […] So kennt das Schweizer Deutsch kein scharfes "ß", weshalb alle seit je "dass" und nicht "daß" schreiben.
Noch toleranter wäre es, meint Herr Z., wenn wir den Zustand der Vordudenzeit zurückbekämen. Jedem Lehrer und jedem Drucker seine eigene Orthographie. Ob so ein Antrag meinerseits Erfolg haben könnte? Wie es heute aussieht, scheint dieser Zustand sich bereits von selbst wiederherzustellen.
1997-11-26
In der zerfaserten und schwer überschaubaren rechtsextremen Szene ist keine zentral gesteuerte Aktion gegen die Rechtschreibreform erkennbar. Aber etliche Organisationen und Schriften machen sich die in Teilen der Bevölkerung verbreitete Abneigung gegen neue Rechtschreibregeln zunutze, um mit deutschnationalen Parolen die Stimmung anzuheizen.
1997-11-21
"Die neuen Regeln sind Pfusch und großteils schwachsinnig", wetterte Wiens Ex-Bürgermeister Helmut Zilk bei einer Podiumsdiskussion. […] Unterrichtsministerin Elisabeth Gehrer, mit der Durchsetzung der umstrittenen Reform betraut, meint dagegen gelassen: "Die Klagen sind doch an den Haaren herbeigezogen. Man will, daß die Volksschulkinder Englisch lernen, aber das Wort ,daß' mit Doppel-S zu schreiben, soll zuviel für sie sein?"
1997-11-18
Ist es etwa belanglos, wenn Schüler (und nach ihnen Millionen Erwachsene) sich mit schlechteren oder gar falschen Schreibungen auseinandersetzen (geplant: "auseinander setzen") müssen? Warum sollen sie gezwungen werden, anders zu schreiben als der Bundespräsident und der Bundeskanzler, anders als die bedeutendsten deutschsprachigen Schriftsteller und Germanisten?
1997-11-17
Daß die Rechtschreibreform Sache der Rechtsprechung geworden ist, kann kaum erstaunen. Im Rechtsstaat des Grundgesetzes landet nahezu jedes gesellschaftliche Problem von politischer Relevanz bei der Justiz. […] Der ausgetüftelten Neuregelung der Rechtschreibung, der die Regierungen ihren Segen gegeben haben, fehlt es offensichtlich an Akzeptanz bei der Bevölkerung. Wäre es da nicht besser, die Rechtschreibung der Selbstregulierung zu überlassen, mit der man bisher nicht schlecht fuhr? Die Deutschen, heißt es, sind ein rührend legalitätsbedürftiges Volk. Was die Sprache angeht, so sollte sich jedoch der Staat jedweder Regelung enthalten und darauf vertrauen, daß sich die Normen im Konsens aller entwickeln, die mit der Sprache umgehen. Die Probleme, die jetzt soviel Staub aufwirbeln, erledigten sich dann von selbst.
Selbstregulierung? Aber gewiss doch! Eine entwicklung (z. b. fremdworteindeutschung, unzufriedenheit mit der grossschreibung) bahnt sich an, in teilen der sprachgemeinschaft (sprachwissenschafter) stellt man das fest, nicht so weit gehend wie in anderen teilen der sprachgemeinschaft (z. b. BVR), und irgendwann kann sich auch die schule (staat) nicht mehr gegen die selbstregulierung wehren. Aber zur selbstregulierung gehört, dass teile der sprachgemeinschaft immer anderer meinung sind, die anderen teile also nicht legitimiert sind. Der "Konsens aller" würde mindestens auch die toleranz aller voraussetzen. Für solche fälle hat der staat instrumente mit mehrheitsentscheiden erfunden; ohne sie würden wir immer noch in höhlen leben.
1997-11-15
Klarer Sieg für den 40jährigen Spandauer Gernot Holstein am Freitag vor dem Berliner Verwaltungsgericht. […] Richter Hans-Peter Rueß […]: "Die Rechtschreibung hat eine grundlegende Bedeutung für die Entwicklung junger Menschen." Die Schule werde zur "Initiatorin einer veränderten Rechtschreibung in der Gesellschaft", anstatt die "allgemein anerkannte Rechtschreibung" nachzuvollziehen.
Erfolg für Familienvater und seine drei Rangen: Verwaltungsgericht gab erstmals einer Klage gegen die Rechtschreibreform statt. […] Gestern wurde erstmals der Streit um die Rechtschreibreform von einem Verwaltungsgericht nicht nur im Eilverfahren verhandelt, wie in den bisherigen 22 Verfahren bundesweit, sondern in der Hauptsache selbst.
1997-11-14
Die deutsche Orthographie ist geregelt. Täglich werden Hunderttausende von Texten gedruckt und geschrieben, die genau dieselben Schreibweisen befolgen, wie sie in Millionen von Büchern bereits vorliegen. Es gibt einen Usus, der in seinem Kernbestand fraglos gilt und bisher vom Duden schlecht und recht beschrieben war. Erfunden hat der Duden die übliche Rechtschreibung natürlich nicht. Sie ist vielmehr das Ergebnis einer jahrhundertelangen Schreibpraxis von unzähligen Menschen, die sich sehr wohl etwas dabei gedacht haben, wenn sie groß und klein, getrennt und zusammenschrieben, Kommas und Anführungszeichen setzten.
Es werden – um es milde auszudrücken – auch texte geschrieben, die nicht genau dieselben schreibweisen befolgen. Jedenfalls denken wir uns auch etwas dabei, wenn wir substantive klein schreiben.
Eine Podiumsdiskussion im Palais Liechtenstein machte vor allem deutlich: Auch die Kommissionsmitglieder sind mit der Rechtschreibreform nicht ganz zufrieden. […] Tenor dieses vom Club der Universität Wien vor allem mit Verfechtern der gemäßigten Kleinschreibung besetzten Podiums: Die Rechtschreibung sei als Bildungsmaßstab überbewertet. Und werde wohl an normativer Kraft verlieren.
1997-11-13
Wie soll es mit der deutschen Orthographie weitergehen? In großen Worten wird sie mit der Steuer-, der Gesundheits- oder der Rentenreform verglichen, und mit genauso großen Worten wird sie zum Nullproblem erklärt. Fast alle sind das Thema leid. Währenddessen läuft die Zeit davon und mit ihr einfache Lösungen. […] Dritte Wege sind selten gefragt. Trotzdem plädiere ich erneut für eine Überarbeitung des beschlossenen Regelwerks.
1997-11-10
Viele Wähler werden sich die Entmündigung durch die Kultusminister nicht gefallen lassen.
1997-11-07
Evelyn Thornton, Lektorin für Deutschdidaktik an der Universität Wien, über die Rechtschreibreform und deren Boykott durch "Die Presse". Populismus ist heute salonfähig, nicht nur in der Politik, im gesamten öffentlichen und medialen Bereich sorgt er für hohe Auflagen, Zuseherquoten, Bekanntheit. So entdecken auch seriöse Zeitungen den Populismus für sich und begeben sich auf ein bisher nicht gekanntes Niveau.
1997-11-04
Das sächsische Oberverwaltungsgericht in Bautzen wies am Montag die Beschwerde der Regierung gegen das erstinstanzliche Urteil eines Dresdner Gerichtes ab, welches dem Antrag der Eltern eines Erstklässlers zur Aussetzung der Reform stattgegeben hatte. Das Gericht meinte, das Persönlichkeitsrecht des Kindes und das Erziehungsrecht seiner Eltern würden durch die Einführung der neuen Rechtschreibregeln verletzt. […] Damit darf das betreffende Kind nicht nach den neuen Rechtschreiberegeln unterrichtet werden.
Deutschlands Außenminister Kinkel will die Rechtschreibreform aussetzen und fordert die deutschen Bundesländer, Österreich und die Schweiz auf, das Regelwerk noch einmal zu überdenken. Das Büro von Ministerin Gehrer winkt ab. Kinkel sei in dieser Frage nicht kompetent.
1997-11-01
Wie wir uns die Scherereien ersparen, die der «Dudenklüngel» uns zumuten will, fragt Herr Schneider. Ganz einfach: Ignorieren!
Das allergrösste Ärgernis ist allerdings, dass eine Handvoll offensichtlich versponnener Experten selbstherrlich über alle Köpfe hinweg diktiert, wie hundert Millionen Menschen zu schreiben haben!
Wolf Schneider spricht mir aus dem Herzen, wenn er die Rechtschreibereform zerpflückt, die ausser inkonsequentem Stückwerk nichts bringt.
Wer sich bei den Schreibschwachen anbiedert und dabei sinnvolle Bedeutungsunterschiede einebnet, hat die Sprache nicht reformiert, sondern bloss ein bisschen plumper und tumber gemacht. Einer muss sich immer plagen: entweder der Schreiber oder der Leser.
Irrtum — eine schlechte rechtschreibung ist für alle schlecht.
Ein Bravo den Ausführungen zur Rechtschreibereform!
Die vorgeschlagene Neuregelung stellt keine wirkliche, von wissenschaftlichen Kriterien ausgehende Rechtschreibreform dar, sondern beinhaltet lediglich eine Reihe solchen Prinzipien zumeist diametral zuwiderlaufender partieller Änderungen an den bisher geltenden Regeln. […] Die Chancen einer echten Rechtschreibreform hängen also in hohem Maße von der fachlichen Qualifikation der für ihre Vorbereitung und Durchführung Verantwortlichen ab, seien es nun Sprachwissenschaftler, Pädagogen oder Politiker. […] Dies bedeutet, daß einer echten Reform nur das phonologische und, hinsichtlich Zusammen- und Getrenntschreibung, das grammatische Prinzip zugrunde liegen kann. Zu berücksichtigen sind dabei unbedingt auch der ökonomisch-ökologische und der internationale Aspekt. Das semantische Prinzip – in ideographischen oder Hieroglyphenschriften unvermeidlich – hat in einer Buchstaben verwendenden Rechtschreibung nichts zu suchen.
1997-10-29
Es ist eine alte, tausendmal bestätigte Erfahrung, daß auch einer sinnlosen Tätigkeit mit der Zeit, die man auf sie verwendet, Bedeutung zuwachsen kann. Arbeit adelt auch die dümmsten Dinge; und auch die Zwangsarbeit ist eine Form von Arbeit. Der erbitterte Tonfall, der den Streit um die Rechtschreibreform von Anfang an ausgezeichnet hat, erklärt sich nur auf diese Weise.
1997-10-27
Christian Meier, Präsident der Akademie für Sprache und Dichtung, kritisierte in seiner Rede das Festhalten der Kultusminister an der Rechtschreibreform. Es sei "nicht schlimm, Fehler zu machen", schlimm sei es, wenn "man sie weitertreibt bis ins Lächerliche hinein".
1997-10-25
Sollen jetzt aber Juristen über die deutsche Schreibweise entscheiden? […] Die Rechtschreibereform scheint zum Vehikel für populistische Politiker verkommen zu sein. Auch in der Schweiz.
In der Schweiz ist erstmals eine Klage gegen die Rechtschreibereform eingereicht worden. […] Nach Darstellung des Klägers wird die Rechtschreibereform in der Schweiz trotz wachsendem Widerstand in Deutschland unbeirrt weitergeführt.
1997-10-24
Das Schauspiel trägt den Titel "Die Neuregelung der deutschen Schulorthographie", bekannter unter dem arg hyperbolischen Namen Rechtschreibreform. Stattfinden kann es, weil wir Deutschen zu Fundamentalisten werden, wenn es um Normen geht, und jene Minireform auf den liebsten aller Wege geschickt haben, den Rechtsweg. Seit März dieses Jahres mußten zwölf Verwaltungsgerichte darüber entscheiden. Sieben entschieden dafür, fünf dagegen […].
Und das Problem, ob der "Kuss", wie ihn die neue Rechtschreibung will, immer noch der alte Kuß sei, die Frage, die uns brennend auf der Seele hätte liegen sollen, lag uns gedankenlos Küssenden gänzlich fern. Nun aber die FAZ, die uns den Versöhnungskuß darbietet! "Auch der Kuss bliebe zärtlich", schreibt Kurt Reumann in seinem Leitartikel, wo er (bedenkt man den erbitterten Kampf des Blatts gegen die neue Schreibung) die überraschende Feststellung trifft, "daß nicht alles schlecht ist an der neuen Regelung".
Für seine Tochter zieht ein oberösterreichischer Anwalt vor das Verfassungsgericht. Den letzten Anstoß zu diesem Schritt gegen die Rechtschreibreform gab der Boykott der "Presse".
1997-10-23
Mit dem Datum des 22. Oktober zählt man in Deutschland 18 Gerichtsverfahren, die sich mit der Rechtschreibereform abgegeben haben; dabei handelt es sich um 13 erstinstanzliche Fälle (auf der Ebene der Verwaltungsgerichte) und 5 zweitinstanzliche (Oberverwaltungsgerichte respektive der Verwaltungsgerichtshof in Kassel). Knappe «Sieger» auf der unteren Ebene sind bis jetzt die Reformbefürworter mit 7 zu 6 Urteilen, während sie auf der zweitinstanzlichen Bühne ein klares Skore mit 4 zu 1 vorweisen können.
Der FDP-Vorsitzende Wolfgang Gerhardt will die Reform ausgesetzt wissen. Das Durcheinander sei für Schüler unzumutbar.
1997-10-22
[…] mittlerweile 18 Gerichtsverfahren, die in den unteren Instanzen eine bescheidene (7:6) und in den Berufungsinstanzen eine deutliche (4:1) Mehrheit für die Reform brachten.
1997-10-21
Die bürgerliche "Frankfurter Allgemeine Zeitung" ist der Ansicht: " […] Sprache ist nicht einfach Verfügungsgut, Manövriermasse staatlicher Instanzen. Sie muß in ihrer Eigengesetzlichkeit geschützt werden. Eine Rechtschreibreform darf also nicht zum Motor von Veränderungen werden, sie soll Wandlungen nur nachvollziehen."
Nach Ansicht des Oberverwaltungs-Gerichts "gehört die Sprache dem Volk und ist vorstaatlich". Sprache dürfe deswegen nicht hoheitlich geordnet werden. "Der Staat darf nur bereits eingetretene Veränderungen der Sprache normieren, nicht aber Motor der Veränderungen werden, auch nicht aufgrund eines Gesetzes", äußerten die Richter in Hamburg.
Anfang Dezember soll der deutsche Bundestag über die Rechtschreibreform entscheiden. In Niedersachsen, wo die zweite Instanz den Gegnern des Regelwerks recht gegeben hat, wird die Reform nun bis auf weiteres ausgesetzt.
1997-10-20
Damit ihr Werk trotz des Rückzugs in der Kleinschreibung das Prädikat Reform verdiene, hat die Kommission sich auf ein Minenfeld gewagt, das die Rechtschreibreform von 1901 ausgespart hatte: die Getrennt- und Zusammenschreibung. Dabei versuchen die Neuerer, die Manie des "Duden", immer mehr Wörter zusammenzuschreiben, zu kurieren - aber unter welchen Opfern! Die neue Manie des Auseinanderschreibens würde so viele Unterscheidungsschreibungen beseitigen, daß Widerspruch, ja Widerstand geboten ist. Wir wollen auch künftig auf den ersten Blick erkennbar machen, ob wir einen Pudding "kalt stellen" oder einen Politiker "kaltstellen", ob wir auf dem Stuhl "sitzen bleiben" oder in der Schule "sitzenbleiben" […].
Wir erkennen den unterschied zwischen einem pudding und einem politiker auf einen blick.
1997-10-15
Zwei Themen beherrschen die Frankfurter Buchmesse: Die Rechtschreibung und Buchpreisbindung. Kaum ein Thema ist der alljährliche Rekord an Ausstellern. Beim in Deutschland sehr beliebten "juristischen Elf-Meter-Schießen" in der Frage der Rechtschreibreform stehe es, so Kurtze, zur Zeit zehn zu drei für die Reform. Leidtragende bei einer Kehrtwendung wären die kleinen und mittelständischen Verlage, die bisher fast ausschließlich die Kosten der Reform getragen haben.
1997-10-14
Professor Zabel hätte als ehemaliges Mitglied der Rechtschreibkommission allen Anlaß zu schweigen.
1997-10-01
Das interessanteste Konzept, das die Fachleute beschäftigt, ist das eines neuen Mediävismus, nämlich eines Gesellschaftssystems, in dem die internationalen Dimensionen der politischen und der Rechtsordnung anerkannt und in den Vordergrund gestellt werden. Das Rechtsmonopol des Staates wird gebrochen, und übergreifende Formen der Autorität werden akzeptiert. Die neue Mittelalterlichkeit ist vor allem für Minderheiten in Grenzgebieten attraktiv. Sie würde es zum Beispiel den Basken und Katalanen auf beiden Seiten der spanisch-französischen Grenze erleichtern, auf bestimmten Ebenen wie Kultur und Schule Verwaltungseinheiten zu bilden. Die niederländisch-flämische Sprachunion ist eine grenzübergreifende Organisation, die auf die Sprachgemeinschaft, nicht die nationale Gemeinschaft bezogen ist. Die deutsche Rechtschreibreform wurde von Vertretern aller deutschsprachigen Länder beraten.
1997-09-29
Universitätsprofessor Dr. Heinz Dieter Pohl, Institut für Sprachwissenschaft, Universität Klagenfurt, zur Rechtschreibreform und ihren Boykott durch die "Presse". […] Die ganze Aufregung rund um die Rechtschreibreform verstehe ich nicht ganz. Schon seit Jahren ist bekannt, daß sie kommt und es war auch schon lange abzusehen, daß sie keine "Reform", sondern bloß ein "Reförmchen" wird, denn radikale Neuregelungen wie z. B. die sogenannte "gemäßigte" Kleinschreibung waren nicht durchsetzbar. […] Meiner Meinung nach sollte man also bei diesem "Reförmchen" bleiben und manche Auswüchse langsam zurücknehmen. Ähnliches ist Anfang der 60er Jahre in Slowenien geschehen, wo eine Neuerung (eigentlich Rückkehr zu einer alten Schreibung, die mit der modernen Aussprache nicht mehr übereinstimmt) auf Ablehnung weiter Kreise der Bevölkerung stieß.
Über die Rechtschreibreform und den Boykott der Reform durch die "Presse": Christian Rainer, Herausgeber und Chefredakteur des "trend", Josef Votzi, Herausgeber und Chefredakteur des "profil", und Wolfgang Fellner, Herausgeber des Nachrichtenmagazins "News".
1997-09-27
Was der unentwegte Kampf für die Erhaltung des Hochdeutschen bei einem Schweizer anrichten kann, sieht man an Werner Frick: Der 82jährige ist geistig und körperlich topfit. […] „Es ist ein aussichtsloser Kampf“, sagt er. Wer den langjährigen Geschäftsführer des Vereins [für die deutsche Sprache] an der Alpenstraße in der Zentralschweizer Stadt Luzern aufsucht, hört solche trockenen Klagen oft. […] Dafür ist das Eszett in der Schweiz verschwunden, das Frick trotzdem mit Vehemenz im Sprachspiegel hochgehalten hat. Aber sein jüngerer Nachfolger, ebenfalls Rentner, ließ diese Bastion vor kurzem fallen.
Österreichs Unternehmen wurden zur Rechtschreibreform befragt: sie sei unlogisch, nicht notwendig und teuer in der praktischen Umsetzung. […] Eine Kleinschreibung mit logischen Abteilungs- und Beistrichregeln fände wesentlich mehr Zustimmung.
1997-09-25
Seit langem ist die Großschreibung im Deutschen heftig umstritten, aber selbst die "gemäßigte Kleinschreibung" hat sich nicht durchsetzen lassen. Um so mehr verwundert die vermehrte Großschreibung.
1997-09-24
In der Diskussion um die Rechtschreibreform wird von vielen ihrer Gegner angeführt, daß die deutsche Sprache durch sie als Kulturgut gefährdet sei, daß die Reform daher von höchster Stelle (Gesetzgebung, Parlament, Volksentscheid) entschieden werden müsse. Diese Meinung beruht auf dem verbreiteten Irrtum, daß die Schreibung einer Sprache identisch mit dieser selbst sei. […] Aber die Schreibung einer Sprache ist nicht die Sprache selbst. […] Von vornherein wurde auf die gemäßigte Kleinschreibung verzichtet […]. Diese wird mittlerweile von allen europäischen Staaten praktiziert. Dänemark hat 1948 auf die Großschreibung der Substantive verzichtet, ohne daß dort die Kultur verfallen wäre.
1997-09-23
Dr. Richard Schrodt zum Boykott der Rechtschreibreform durch die "Presse". […] Ob die Reform nicht mehr als ein Reförmchen ist, kann nicht so einfach entschieden werden. Tatsächlich konnten einige konsequente und vernünftige Reformschritte wie die Einführung der gemäßigten Kleinschreibung nicht durchgesetzt werden. Aber diese Reform ist wahrscheinlich das Maximum dessen, was man in unserer politischen Situation durchsetzen kann, und da sie in manchen Bereichen entscheidende Verbesserungen und Vereinfachungen enthält, soll man sie nicht grundsätzlich ablehnen. Zudem zeigt sich eindeutig, dass die reformierte Schreibung zu weniger Rechtschreibfehlern führt.
Die "Zwischenstaatliche Rechtschreibkommission" soll nicht nur Unstimmigkeiten klären, sondern auch beobachten, welche Schreibweisen sich letztlich durchsetzen. Es gibt noch Spielraum. Horst Haider Munske, von Anbeginn dabei, hat seine Arbeit niedergelegt. […] Der Arbeitskreis bereitete die Entscheidungen vor — getroffen wurde sie von der Politik. Blüml jedenfalls wäre, wie auch Richard Schrodt, mit "der Kleinschreibung glücklicher gewesen" (Blüml).
Ich habe schon 1993 erklärt, daß es nur eine Pflege, keine Reform der Orthographie geben kann. Man muß die Regeln verständlich darstellen und dabei Widersprüche und Spitzfindigkeiten ausräumen. Diese Reform aber versteigt sich bis zur Sprachplanung . […] Horst Haider Munske, Linguist aus Erlangen, bis vor kurzem Mitglied der zwischenstaatlichen Rechtschreibkommission, gegenüber dem Nachrichtenmagazin "Der Spiegel" über seine Gründe, die Kommission zu verlassen.
1997-09-19
Durch den Schritt der Eindeutschung von Fremdwörtern ist es - besonders für Schüler, die eine Fremdsprache lernen - nicht mehr möglich, den Ursprung des Wortes in der von ihnen gelernten Sprache zu erkennen.
Im englischen, romanischen insbes. französischen Kulturkreis käme wohl niemand Ernstzunehmender auf eine so abwegige Idee.
Doch!
Hurra für den Boykott der unsinnigen sogenannten Rechtschreibreform durch Ihre geschätzte Zeitung!
Als jahrelanger und treuer Leser der "Presse" danke ich Ihnen besonders, daß Sie nicht den Unsinn der neuen Rechtschreibung mitmachen.
Das "Jahrhundertwerk" Rechtschreibreform wurde von einem kleinen Kreis von Wissenschaftlern ersonnnen, die bis heute anonym geblieben sind. Oder kam irgendwann die Einladung zu einer öffentlichen Diskussion über die beabsichtigten Neuregelungen?
1997-09-18
Zum sechshundertsten Mal jährt sich im September der Geburtstag von König Sejong (1397–1450). […] Er war es auch, der die koreanische Schrift, Hangul, einführte. […] Erst unter japanischer Kolonialherrschaft (1910–1945) begannen sich Teile der Elite Koreas für den Gedanken einer nationale Schrift zu erwärmen. Hangul wurde zum Symbol des Widerstands […]. In der Zeitung «Tongnip Shinmun» (die Unabhängigkeit) schrieben progressive Intellektuelle auf koreanisch in Hangul, die sich freilich noch immer gegen die Konservativen durchsetzen mussten, welche […] weiterhin chinesisch schrieben. Zur offiziellen Schrift Koreas wurde Hangul erst nach der Unabhängigkeit, fünfhundert Jahre nach der gescheiterten Reform. So lange dauert es zwar nicht immer, eine Schrift- oder Orthographiereform durchzusetzen; gleichwohl ist die allgemeine Lehre, die aus dem koreanischen Beispiel gezogen werden kann, dass es kaum etwas Konservativeres gibt als eine etablierte Schrifttradition.
1997-09-16
Durch die neue Rechtschreibung wird dem Leser die Arbeit erschwert, indem das Doppel-s, das weder Unter- noch Oberlänge hat, nicht so schnell ins Auge springt.
1997-09-13
Der Kampf gegen die Rechtschreibreform ist die erste plebiszitäre Bewegung mit bundesweiter Dimension – in Niedersachsen fällt wahrscheinlich die Entscheidung. […] Letzten Freitag nahmen die Reformgegner in Niedersachsen die erste Hürde zu einem Volksentscheid. 25 000 gültige Unterschriften mußten sie beim Landeswahlleiter abliefern. Für sie kein Problem. "Wir haben bereits mehr als zehnmal so viele gesammelt: über 290 000", sagt Professor Carsten Ahrens.
1997-09-10
Man darf die Folgen der neuen Rechtschreibung in der Praxis nicht überschätzen: Bei den meisten Texten findet man nur wenig Unterschiede, wenn man eine Fassung in bisheriger Rechtschreibung mit einer Fassung nach neuen Regeln vergleicht. Dové machte die Probe aufs Exempel mit einer willkürlich gewählten NZZ-Textseite: Die neue Rechtschreibung führte zu vier Veränderungen. Es ist eben gar nicht so, dass es in Zeitungstexten wimmeln würde von Dingen wie behenden Gemsen, die nach den neuen Regeln zu behänden Gämsen werden müssten.
1997-09-06
Doch die schwierigen verfassungsrechtlichen Probleme, wie grundrechtliche Freiheit zu sichern, föderale Einung zu bewerkstelligen, demokratische Legitimation zu aktivieren ist, erledigten sich ganz einfach, wenn der Staat sich überhaupt jedweder Regelung enthielte, die Sprache sich selber regelte und die Schreibenden unter sich den Konsens über die Regeln herstellten […]. In diesem kulturanarchischen Verfahren, an Freiheitlichkeit überlegen jedwedem Verfahren der Demokratie, hat sich Jahrhunderte hindurch die deutsche Sprache entwickelt: im tagtäglichen, offenen Plebiszit, an dem alle mitwirken, die des Wortes mächtig sind und die deutsche Schriftsprache beherrschen. Die unsichtbare Hand, die Adam Smith im Marktgeschehen walten sah, leitet auch das Sprachgeschehen und bringt, alles in allem, vernünftige, verständigungsförderliche Normen hervor. Die Selbstregulierung der Sprachgemeinschaft ermöglicht Tradition und Evolution, Eigenwilligkeit und Anpassung. Sie weiß autonome Durchsetzungsmittel auf ihrer Seite: Kommunikationsbedürfnisse und Isolierungsfurcht.
Tolle idee, aber leider die übliche verwechslung von sprache und schreibung (stichwort schichtenmodell). Es gibt keine amtliche sprache, aber eine amtliche rechtschreibung.
Aufbegehren tut not. Die Rechtschreibreform ist sicher nicht das drückendste Produkt staatlicher Überregulierung, sie ist aber eindeutig das überflüssigste.
Die neuen Regeln der Rechtschreibreform werden schon an den Schulen gelehrt – und beschäftigen derweil in Deutschland die Gerichte. […] Wie deutsche Gerichte urteilen, wird für Österreich maßgeblich sein.
Was für jene gilt, die in Deutschland die Justiz beschäftigen oder in Österreich das Verfassungsgericht, das gilt auch für die Autoren: Kaum ein Lager zeigt sich so uneinig wie jenes, das scheinbar geschlossen gegen die Reform zu Felde zieht. Jenen, die die gemäßigte Kleinschreibung propagieren, stehen andere gegenüber, deren Begehr es ist, daß alles beim alten bleibe.
In den siebziger Jahren wurde über eine gemäßigte Kleinschreibung nachgedacht. Zu einer grundlegenden Reform kam es jedoch seit 1902 nicht.
Das Hauptproblem wäre eigentlich die Groß- und Kleinschreibung.
Ein österreichischer Sonderweg in der „Orthographie“, wie er in den letzten Wochen durch einzelne, von niemandem bestellten, aber wohl bestallten (wohlbestallten) Sprechern vorgeschlagen wurde, wäre eine wahrhaft „idiotische“ Lösung.
Im Lichte der jüngsten Entwicklungen in Deutschland würde ich die Reform sofort abblasen. Besser gar nicht als so. Das zahlt sich nicht aus.
Dagegen protestieren hätten diese Schlafmützen von Schriftstellern und Oberlehrern schon vor Jahren können.
Es darf nicht sein, daß die einzige Grundlage, die für alle gilt, die Sprache, zu einem bürokratischen Konsens gezwungen wird – vor allem dann nicht, wenn diese Reform in allen Details unsinnig ist.
Im Gegensatz zu manchen Gegnern oder auch den meisten Befürwortern bin ich nicht der Meinung, daß es ein Ziel sein soll, die Sprache zu vereinfachen.
Diese Reform haben sich Sprachwissenschafter sehr theoretisch und von oben herab ausgedacht. Das ist ein Diktat.
Sprache ist auch Konvention. Sie ist kein betoniertes System, sondern ständig dabei, sich zu verformen.
Wenn es dann eine Reform gibt, dann sollte sie eher in Richtung Kleinschreibung gehen.
1997-09-05
Alle Lehrerverbände sowie auch der Deutsche Didacta Verband unterstrichen, sie hätten sich eigentlich eine viel weitergehende Rechtschreibreform gewünscht.
Die neue Rechtschreibung bringt tatsächlich Vereinfachungen, und man wird damit leben können, wenn man nicht allzu stur auf "richtig" und "falsch" beharrt. Dass sich die Schreibfehler infolge der neuen Regelungen vermindern werden, darf aber angezweifelt werden.
Wo leben denn eigentlich all die gescheiten Experten, die uns dieses widersprüchliche und schwer vermittelbare Regelwerk eingebrockt haben?
Eine überflüssige Reformkommission will diese liberale Atmosphäre, die die deutsche Sprache vor Sprachen mit autoritären Akademien auszeichnete, nun zerstören.
Linguist Horst Sitta hat nicht nur an der Rechtschreibreform mitgewerkelt — er verdient auch an ihr.
Noch augenfälliger ist die Macht vermeintlich "politikferner" Gesellschaftsschichten bei der Rechtschreibreform. Hier hat die Politik keineswegs von vornherein versagt, sondern im Gegenteil hoheitlich neue Rechtschreibregeln erlassen. Damit hätte die Sache ihren Gang gehen können. Doch lange bevor verschiedene Politiker die Materie zur eigenen Profilierung entdeckten, probte ein bayerischer Gymnasiallehrer den Aufstand gegen die Obrigkeit und fand bald Nachahmer unter denen, die die fristgerechte Kritik und somit die mittelbare oder unmittelbare Mitarbeit an der Reform der Rechtschreibung vor der Wiener Erklärung versäumt hatten. Eine Handvoll klagender Eltern und angerufener Verwaltungsrichter, die sich alle nicht als "Politiker" im Sinne "der da oben" sehen, brachten das Reformwerk ins Wanken. Wird es endgültig zertrümmert — hat dann die Politik versagt? Oder haben sich nicht einfach andere Mächte durchgesetzt, die in dem demokratischen Staatswesen einflußreicher sind als die Kultusminister?
1997-09-03
Wenn sogenannte Experten eine Reform vorschlagen, sollte man immer fragen, ob wirklich ein Mißstand vorliegt oder ob die Experten den Reformbedarf nur erfinden, um die Existenz ihrer Institute und Planstellen zu rechtfertigen.
Sie [den Alphabete] abstrahierten das gesprochene Wort und rationalisierten dessen Wiedergabe. Mit diesem rationalen Grundprinzip ist vielfach Schindluder getrieben worden, und Philologen und Historiker haben es dahin gebracht, daß Rechtschreibung eine komplizierte und unsystematische Sache geworden ist.
1997-09
Leser haben sich noch nie gewünscht, dass die vertrauten Wortbilder sich ändern.
Man hat eben noch nie gehört, dass einem Drittel der Schulabgänger selbst die elementaren Lesefähigkeiten abgehen, Legasthenie werde in einigen Sprachen durch besonders komplizierte Rechtschreibung "forciert", so mancher schreibt nämlich schon heute nach neuen Regeln, ohne es zu ahnen; zur Erleichterung des Lesens sollte die Schriftsprache so weit wie möglich an die gesprochene Sprache angelehnt werden.
1997-08-31
Reformfreudige Schweiz: Selbst wenn Deutschland die Rechtschreibereform abbläst, werden an Schweizer Schulen die Lehrmittel umgestellt. […] «Unser Land kann die Rechtschreibereform auch ohne Deutschland realisieren», so Feller [Verlagsleiter der Interkantonalen Lehrmittelzentrale (ILZ) in Luzern und Präsident der Konferenz der kantonalen Lehrmittelverlagsleiter]. «Die Neuerungen sind nicht gravierend. Neben den üblichen Schweizer Eigenarten in der Schriftsprache fallen sie gar nicht ins Gewicht.»
1997-08-30
Um eine Klage zu begründen, wird jetzt allen Ernstes behauptet, die Anwendung der neuen Regeln – zum Beispiel bei der Zeichensetzung – bedeute eine „Herabsetzung des Bildungsniveaus". Mit diesem Argument kann man natürlich jede Vereinfachung von Orthographie und Interpunktion hintertreiben.
Bei der jetzigen Reform handelt es sich jedenfalls nicht um den Bruch mit einer hundertjährigen Tradition, sondern um die Anpassung des Regelwerks an die neue Schrift, die im Zuge des Zweiten Weltkriegs nicht mehr erfolgte.
1997-08-29
Der Zank um die neue deutsche Rechtschreibung beschäftigt in Deutschland schon Gerichte. Einer von drei Schweizer Vertretern in der Reformkommission war der Zürcher Linguistikprofessor Horst Sitta. Wie steht er zum Streit? […] (Sitta:) Die Debatte scheint mir sehr deutsch zu sein. Bedauerlicherweise geht es praktisch gar nicht mehr um die Inhalte der Reform. Hier liesse sich nämlich sehr leicht zeigen, wie sinnvoll die Neuregelung ist. […] Als man Anfang der neunziger Jahre in Deutschland die fünfstelligen Postleitzahlen und in Österreich die neuen Autokennzeichen einführen wollte, hat es genau das gleiche Phänomen gegeben: Grossen Widerstand am Anfang, heute spricht niemand mehr davon.
1997-08-28
Bismarck wechselte in einem englisch begonnenen Brief an seinen Studienfreund Motley (1870 amerikanischer Gesandter in London) alsbald ins Deutsche, weil er "in so einer unorthographischen Sprache" nicht weiter schreiben könne.
1997-08-27
Reformbedürftig sind unsere Schrift und unsere Sprache in drei ganz anderen Punkten: Kurze und lange Vokale müßten durch gesonderte Zeichen dargestellt werden (vergleiche griechisch Omega und Omikron); sch, ch, ng müßten durch ein einziges Zeichen ersetzt werden; statt der Verrücktheit, daß Zahlen in anderer Reihenfolge gesprochen als geschrieben werden, wäre die mündliche Diktion "zehnfünf" (15), "dreißig(und)fünf" (35) und so weiter einzuführen.
1997-08-26
Es ist lächerlich, was hier vor aller Augen abläuft. Die Reform ist lächerlich (unbedeutend in ihrem Gehalt), die professionellen Kritiker sind lächerlich (in ihrer aufgeblasenen Wichtigtuerei), die Juristen machen sich lächerlich (mit ihrem pseudo-logischen Argumentiergehabe) und die Politiker lachen sich eins, weil sie Stoff im Sommerloch haben, der unverhofft kam und als Ablenkung sehr probat eingesetzt werden kann. Alle zusammen geben sich und Old-Germany der Lächerlichkeit preis. So gesehen ist Elfmeterschießen gar nicht so schlecht. Da weiß man wenigstens, was man hat.
Die Rechtschreibreform wühlt die Volksseele auf. Darin äußert sich ein paradoxes Verhältnis zum Staat. […] Der Anführer der Rechtschreib-Rebellen, CSU-Mitglied Friedrich Denk, der immerzu betont, er habe noch nie dem Staat zuwidergehandelt oder auch nur widersprochen, ist der Prototyp der Rechthaber und Rechtschreiber. Er behauptet doch tatsächlich, wenn die Anrede Du und Sie klein geschrieben wird, ginge ein Stück Höflichkeit flöten, und deshalb werde - so folgerten zuletzt Kläger vor dem Verwaltungsgericht in Dresden - das Erziehungsrecht der Eltern berührt.
1997-08-23
[…] die Zusammensetzung des Gremiums, das die Rechtschreibreform erarbeitet hat. Nach einem Jahrhundert wird das amtliche Regelwerk, immer schon ein wenig fortgeschrieben, durch eine Neufassung ersetzt. Ist das eine Aufgabe nur für Linguisten?
Ja.
1997-08-21
Am Ende, spotten hier schon manche Leute, wird die übereifrige Schweiz das einzige deutschsprachige Land sein, in dem die Rechtschreibereform durchgesetzt und pünktlich eingeführt wird. "Die schweizerischen Instanzen sehen keinen Grund, nach dem negativen Verwaltungsurteil in Hessen auf die Durchführung der Rechtschreibereform zu verzichten," meldete die Schweizer Depeschenagentur aus Bern. […] Gerade siebzehn Prozent der Deutschschweizer befürworten die Reform. Wenn die anderen sie ablehnen, dann vielleicht auch deshalb, weil sie keine Lust haben, ohne jede Not Opfer eines nachbarlichen Gründlichkeitswahns zu werden, dem sie aus langer Erfahrung nicht ganz grundlos mißtrauen.
1997-08-20
Die Schweizer verfolgen etwas irritiert das Hin und Her um die Rechtschreibreform in Deutschland. Man zählt die Richtersprüche in den Bundesländern wie Fußballtore und wundert sich vor allem über die Emotionen, die solch bescheidene Änderungen hervorrufen.
Es gibt in unserem Lande wirklich kaum ein Gremium, das sich Entscheidungszuständigkeit anmaßt und bisher so versagt hat wie die Kultusministerkonferenz der Länder. […] Es fehlt ihm nicht nur am rechtlichen Mandat für die Rechtschreibreform, sondern an der bildungsmäßigen und geistigen Legitimation.
Die "Wesentlichkeitstheorie" bringt […] die Freunde der neuen Rechtschreibung in eine arge Zwickmühle. Entweder sie beharren auf dem alten Anspruch, hier gehe es um Wesentliches, nämlich um eine wirkliche Reform […] - aber dafür fehlt ihnen die rechtliche Grundlage. Oder sie sprechen, wie jetzt zu hören, von einer behutsamen Anpassung an veränderte Schreibgewohnheiten, also etwas durchaus Unwesentliches - aber dafür hätte eine Neuauflage des Duden ausgereicht.
1997-08-18
Fraktionschef Hermann Otto Solms sagte, das ganze Vorhaben müsse begraben werden.
Der Streit um die Rechtschreibreform soll nach Auffassung von Bundeskanzler Kohl nicht vom Bundesverfassungsgericht entschieden werden. Statt dessen müsse rasch eine politische Lösung gefunden werden, an der Kultusminister, Ministerpräsidenten, Bundesregierung, Bundestag und Bundesrat beteiligt sind. […] Dagegen bezeichnete FDP-Fraktionschef Hermann Otto Solms neue Gespräche von Bund und Ländern über die Reform als "Unsinn" und wandte sich damit gegen den Kanzlervorstoß. […] Solms: "Wir sollten jetzt die ganze Rechtschreibreform begraben." Die Rechtschreibung sollte sich "wie bisher begleitet von der Duden-Redaktion ganz natürlich weiterentwickeln können".
Der Streit in Deutschland um die Rechtschreibreform macht die Schweizer ratlos. Opposition gegen die Reform gibt es im Alpenland nicht, aber die Begeisterung hält sich in Grenzen. […] Vieles wird für die 4,5 Millionen deutschsprachigen Eidgenossen […] nicht ändern. Mit einer Schwierigkeit müssen sich die Schüler im viersprachigen Alpenland seit 60 Jahren ohnehin nicht herumschlagen: Die Eidgenossen kennen kein Eszett.
1997-08-16
Rolf Wernstedt, als niedersächsischer Kultusminister und Präsident der KMK so etwas wie der erste Herold der Reform, hat wahrscheinlich recht, wenn er die Sache zum Prüfstein für die Politikfähigkeit des Landes ausruft. Aber doch nicht deshalb, weil die Frage, ob wir „zum ersten Male“ getrennt und groß oder klein und verbunden schreiben, politisch belangvoll wäre oder auch nur wesentlich im Sinne der Juristen. Zur Entscheidung steht etwas ganz anderes, die Frage nämlich, ob der Untertan jeden Unfug und jede Pflichtvergessenheit, nur weil sie von oben kommt, hinnehmen muß oder ob er aus Eigenem, aus eigenem Recht, mit eigenen Ideen und auf eigene Kosten, dagegen etwas unternehmen darf. Auch dann, wenn die KMK bockt. Und dann vielleicht erst recht.
1997-08-15
Bei den Karlsruher Entscheidungen zur Wesentlichkeitstheorie handelt es sich vielfach um Fälle, die in der Öffentlichkeit breit diskutiert und politisch umstritten waren. […] Der Verwaltungsgerichtshof für das Land Nordrhein-Westfalen stellte dagegen in seinem Urteil zum Braunkohleplan Garzweiler II ausdrücklich fest, daß "wesentlich" nicht nur "wesentlich für die Verwirklichung der Grundrechte" meine, sondern auch "andere für das Gemeinwesen grundlegende Entscheidungen". Auch in dem Beschluß des Verwaltungsgerichts Hannover zur Rechtschreibreform wird die Wesentlichkeit unter anderem mit der "Breitenwirkung" der Reform begründet. Ob das Bundesverfassungsgericht dieser Auffassung folgt und damit ebenfalls eine gesetzliche Grundlage für die Rechtschreibreform fordert, bleibt abzuwarten.
Der Bundeskanzler hat von seinem Feriendomizil am Wolfgangsee zur Rechtschreibreform verlauten lassen: "Ich halte es nicht für zumutbar, daß der normale Bürger jeden Tag etwas anderes liest." Kohl forderte umgehende Gespräche zwischen der Bundesregierung, der Kultusministerkonferenz und den Ministerpräsidenten.
In den USA denkt man nicht an eine staatliche Rechtschreibreform.
Bei uns auch nicht. Der staat soll nur in seinem engen bereich — der schule — vollziehen, was volk und wissenschaft wünschen.
1997-08-13
Die Reformgegner suchen Schutz bei Gerichten, bei Politikern und Populisten und wollen dabei vergessen machen, dass das, was sie unreformiert lassen möchten, nicht viel weniger unbegreiflich ist als das, was ihnen nun zugemutet wird. Und die anderen, die behördlichen Reformanwälte, tun auch schon wieder so, als sei das Amtsergebnis nach all dem Dreiländerschweiss so sakrosankt wie das, was nun abgelöst werden soll.
Jahrelang haben wir uns bemüht, unseren Kindern die Dialektfärbungen auszutreiben. Man sage behende und nicht behände, Gemse und nicht Gämse, weil man auch behende und Gemse schreibe. […] Wie sollten wir ihnen jetzt beibringen, man sage weiterhin korrekt schriftdeutsch behende und Gemsen […], schreibe aber behände und Gämsen.
Bruchlandung bei dem, was man angeblich den kindern beibringt: Man sagt eben nicht [ɡemzə]. Grund für die verwirrung ist das überoffene dialekt-ä: [æ], das es in der standardsprache nicht gibt. Es geht um den laut [ɛ], der willkürlich ˂e˃ und ˂ä˃ geschrieben wird.
Was immer man von der bisherigen Rechtschreibung und der von den Kultusministern beschlossenen Reform halten mag: Den gegenwärtigen Zustand kann doch wohl kein ernst zu nehmender Mensch mehr verantworten. Schüler, Lehrer, Eltern, Verlage verunsichert; Reformer und Ministerien schalten auf stur, Gegner der Reform nutzen alle Möglichkeiten, sie zu Fall zu bringen. Eine Gesellschaft, die eigentlich Wichtigeres zu tun hätte, in Grabenkämpfen um die eigene Sprache verfangen. So ist es kaum übertrieben, wenn man feststellt: Diese Lage ist unerträglich.
Siegfried Jacobsohn, Gründer und Herausgeber der „Schaubühne", die seit April 1918 „Die Weltbühne" hieß, […] gibt […] Tucholsky Anweisungen für die Fertigstellung eines neuen „Weltbühne"-Heftes […]: „Ihre Aufgabe wäre es, […] die Fehler herauszukorrigieren, aber nur die Fehler, nicht meine orthographischen Eigenheiten […]." Die Frage liegt nahe: Was hätte S. J. zur Rechtschreibreform gesagt?
Wie restriktiv unsere ins Autoritäre abgleitende Demokratie (siehe Rechtschreibreform) ist, wird an den Regelungen über den Volksentscheid in Nordrhein-Westfalen deutlich.
Da die Verlage ebenso wie die Kultusminister die Einführung der Neuschreibung nicht abwarten wollten, waren eine Prüfung der sogenannten Reform und somit eine Beseitigung der über 8000 Fehler in der Auslegung des Regelwerks vor dem 1. August 1998 nicht möglich. Für das jetzt bestehende Rechtschreibchaos und die dadurch nicht mehr existierende einheitliche Schreibung sind allein die Kultusminister und die ihnen aus vorauseilendem Gehorsam wegen des gewitterten Geschäftes willig gefolgten Schulbuchverleger verantwortlich.
Noch nie in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland wurde eine Verwaltungsvorschrift so eilfertig in vorauseilendem Gehorsam erfüllt wie die sogenannte Rechtschreibreform. Niemand hat die Verlage dazu gezwungen, ihre Verlagssortimente umzustellen. Aber die diensteifrige Beflissenheit, mit der man voller Freude noch nicht gebackene Brötchen essen und den satten Gewinn einer bundesweiten Schulbuchumstellung einstreichen wollte, wird nun bestraft.
Der Präsident der Kultusministerkonferenz, Wernstedt (SPD), hat auf die juristischen Attacken gegen die Rechtschreibreform mit einem Gegenangriff geantwortet. In Hannover sagte Wernstedt am Dienstag, wenn sich die Auffassung durchsetzen sollte, daß die Rechtschreibreform einer gesetzlichen Grundlage bedürfe, dann wäre auch die alte Regelung ungesetzlich […]. Zudem warf Wernstedt dem FDP-Vorsitzenden Gerhardt vor, sich der politischen Verantwortung für die Rechtschreibreform zu entziehen.
Verwaltungsgerichte in sechs Bundesländern haben bisher über die Zulässigkeit einer Einführung der neuen Rechtschreibregeln an Schulen entschieden. In ihren Urteilen kamen sie zu unterschiedlichen Ergebnissen: In Nordrhein-Westfalen, Niedersachsen und Hessen bewerteten Richter die juristischen Voraussetzungen für die Einführung der Reform als unzureichend. In Thüringen, Rheinland-Pfalz und Schleswig-Holstein dagegen akzeptierten sie die Umsetzung der Neuerung. Am heutigen Mittwoch wird voraussichtlich mit dem Oberverwaltungsgericht Schleswig erstmals ein oberes Gericht in der Sache über die Einführung der neuen Regeln entscheiden. In der Debatte um Buchstaben und Kommata gibt es mehrere juristische Fragen […].
1997-08-12
Rechtschreib-Politiker beider Seiten können am Kartentisch ihre Fähnchen setzen. Der Kanzler aber fürchtet, das Hin und Her könnte dem zur neuen wie zur alten Orthographie in einem nicht gerade erotischen Verhältnis stehenden Normalbürger mehr Verdruß als Spannung bereiten und so auf fatale Weise den Eindruck bestätigen, „die Politik“ bringe schlechthin nichts mehr zustande. Schädlich ist das vor allem für die Regierenden und damit eben besonders für den Kanzler, der zwar für die Misere der Rechtschreibreform wirklich nicht verantwortlich gemacht werden kann, an dem es aber letztlich hängenbleibt, wenn sich das Bild vom „Chaos, wohin man blickt“, verfestigt. Er nimmt sich also der Sache an: Den Bürgern sei das Durcheinander nicht zuzumuten. Deshalb – es ist ein Kohlscher Reflex – müßten sich „gleich nach der Sommerpause“ alle zusammensetzen, die Kultusminister und die Ministerpräsidenten und die Bundesregierung und die Parlamentsfraktionen, um einen Ausweg zu finden und „diese ungute Diskussion so schnell wie möglich zu beenden“.
Vergangenen Donnerstag gab das Verwaltungsgericht Hannover seinen Beschluß (Az. 6 B 4318/97) bekannt. Danach ist eine gesetzliche Grundlage für die Einführung der Reform notwendig. Wir dokumentieren die Begründung der niedersächsischen Richter leicht gekürzt.
1997-08-09
Nähmen wir es sportlich, es stünde 3:2 für die neue deutsche Rechtschreibung: zwei Verwaltungsgerichte in Wiesbaden und Hannover, die die Reform stoppen, weil ihr die gesetzliche Grundlage fehlt; drei in Schleswig, Weimar und Mainz, die keinen Handlungsbedarf sehen. Gegen eine sportliche Sicht aber spricht der Ingrimm, mit dem die Fehde geführt wird […]. In der juristischen Auseinandersetzung geht es im Kern um die sogenannte Wesentlichkeitsdoktrin des Bundesverfassungsgerichts. […] Im konkreten Fall, und darin liegen die widersprüchlichen Eilbeschlüsse der Verwaltungsgerichte begründet, sind Wesentliches und Marginalie zuweilen schwer zu unterscheiden.
Die Karlsruher Richter […] können sogar Gesetze außer Kraft setzen. Letztlich werden sie nun wohl über das Schicksal der Rechtschreibreform und auch die einzelnen Schritte der europäischen Integration entscheiden müssen. Die Gerichte übernehmen so eine Aufgabe, die eigentlich den Volksvertretern zugestanden hätte. Parlamentarier, die entsprechende Urteile entweder lauthals begrüßen oder verdammen, sollten sich erst einmal an die eigene Nase fassen und sich fragen, ob sie ihre Aufgabe ernstgenommen haben. Wenn Abgeordnete erst dann nach einem Gesetz zur Einführung der Rechtschreibreform rufen, nachdem ein Gericht sie darauf aufmerksam gemacht hat, haben sie ihre Hausaufgaben nicht richtig gemacht.
Als Lehrer, Rektor, Schulrat, Landtagsabgeordneter und Kultusminister war Josef Jochem stets ein Mann des Wortes und der Sprache, und auch jetzt, mit 75 Jahren und im Ruhestand, weiß er wohl damit umzugehen. […] Josef Jochem, der im März 1965 an der Neunkircher Bachschule seine letzte Unterrichtsstunde gehalten hat, steht der Rechtschreibreform durchaus offen gegenüber. Und er ist bereit, sich nach und nach die neuen Regeln anzueignen.
1997-08-08
Wenn eine Gesellschaft alle Auseinandersetzungen auf den Rechtsweg schiebt, dann werden uns eines Tages nur noch Gerichte sagen können, was wesentlich und was unwesentlich ist. Am Anfang war das Wort, am Ende steht das Urteil.
1997-08-06
Zentraler Grund unseres Schreibens und Anlaß unseres Protestes ist aber die sogenannte „Rezension" eines Buches des Reformgegners Professor Theodor Ickler durch Kurt Reumann (F.A.Z. vom 24. Juli). In dieser „Rezension" wird die Behauptung des Autors nicht nur zitiert, sondern explizit in ihrer Aussage bestätigt („So ist es"), daß Millionen Schulbücher „auf den Müll" gehören, weil bereits jetzt feststehe, daß die […] zwischenstaatliche Kommission das Reformwerk grundlegend ändern werde. Diese Behauptung ist falsch.
1997-08-04
Mögliche Folgen für die Partnerländer, wie sie ein einseitiger Reformabbruch haben könnte, kümmern in Deutschland fast niemanden. Die (mittlerweile) in ihrer Mehrheit reformkritische deutsche Presse erweckt den Eindruck, auch Österreich und die Schweiz würden der neuen Rechtschreibung, so sie denn scheiterte, keine Träne nachweinen. Man zitiert mit Vorliebe die Stimmen der Reformgegner bei den Nachbarn, ignoriert aber, um für die Schweiz ein Beispiel zu geben, reformbeharrende Haltungen wie die von Vizekanzler Achille Casanova oder von Christian Schmid, dem Kulturbeauftragten der EDK (NZZ 31.7.97).
1997-08-02
Seit gut einem Jahr ist sie eigentlich beschlossene Sache: Die Rechtschreibreform soll am 1. August 1998 in Kraft treten und bis 2005 komplett umgesetzt sein. […] Für die Wirtschaft geht es in dem ganzen Tohuwabohu vor allem um eins: Was kostet a) die Reform und b) deren Scheitern.
1997-08-01
[…] eine Äußerung des Bundespräsidenten über die Rechtschreibungsreform […]: "Überflüssig wie ein Kropf". Dabei bleibt, fast schon üblich, unerwähnt, daß der Bundespräsident das aufgeregte und aufregende Gerede über die Reform ebenfalls für überflüssig erklärte.
1997-07-31
«Für einen Abbruch der Übung besteht kein Anlass, und zudem ist es dafür zu spät», schreibt in einem Communique Vizekanzler Achille Casanova, der seinerzeit die Absichtserklärung von Deutschland, Österreich, Liechtenstein und der Schweiz in Wien unterzeichnet hat. «Ohne die nun in Deutschland aufgeworfenen rechtlichen Fragen kommentieren zu wollen», halte er die Reform für angemessen und sinnvoll.
Auch die deutsche Sprache müsse modernisiert werden, fanden ein paar Spezialisten. Sie heckten ein paar völlig überflüssige Regeln aus, bezeichneten dies kühn als «Reform» und wollen es nun – angeblich zum Gemeinwohl – allen unterjubeln, die die deutsche Sprache schreiben. […] Doch es sind gerade per Dekret verordnete Reformen, die nicht in die heutige Zeit passen. Die Sprache verändert sich schon von selbst – auch ohne blindwütige Eingriffe sturer Technokraten.
Die «paar spezialisten» haben keine regeln ausgeheckt, sondern (ein paar wenige) abgeschafft, und es sind rechtschreib- und keine sprachregeln. Sie bezeichnen das auch nicht als reform (eine echte rextšraibrefòrm sähe anders aus), sondern als neuregelung. Und die schulrechtschreibung wird nicht allen untergejubelt, sondern den schülern, für die jede rechtschreibung ein dekret ist.
Die einen möchten sitzen bleiben, die andern lieber sitzenbleiben. […] Wie aus dudennahen Kreisen verlautet, werden folgende Vorschläge geprüft: Im Sinne eines Kompromisses wird an geraden Tagen sitzenbleiben, an ungeraden sitzen bleiben geschrieben.
1997-07-30
Die deutsche Rechtschreibreform hat am Dienstag einen vielleicht fatalen Rückschlag erlitten. Ein hessisches Verwaltungsgericht hat den Reformprozess mit der Begründung gestoppt, er bedeute einen derart starken Eingriff in die Bildungsziele, dass er auf einem Gesetz beruhen müsse. […] Es fehle den Kultusministern in den Ländern auch die Befugnis für die Einführung einer neuen Schreibweise für die Bevölkerung, kritisierten die Richter. Die Kultusminister hätten allenfalls Kompetenzen im schulischen Bereich.
Kritiker der Rechtschreibreform verglichen neue Wörterbücher der deutschen Sprache nach den Regeln der Rechtschreibreform. Sie entdeckten nicht weniger als 8000 Widersprüche, wie ihr Sprecher, der Weilheimer Deutschlehrer Friedrich Denk, kürzlich in einer Expertenrunde in Hannover mitteilte.
1997-07-26
Die deutsche Rechtschreibreform droht an einem negativen Votum des Deutschen Bundestages zu scheitern. Zwar kann das Parlament in Bonn in eigener Zuständigkeit nur beschliessen, die 1994 auf der Wiener Orthographiekonferenz beschlossene Neuregelung nicht auf die Amtssprache des Bundes anzuwenden. Eine solche Entscheidung würde jedoch die Einführung der neuen Regeln unmöglich machen.
1997-07-24
Theodor Ickler: Die sogenannte Rechtschreibreform. Ein Schildbürgerstreich. […] Schon jetzt ist klar, „daß die neuen Wörterbücher, Lehrbücher, Schulbücher allesamt auf den Müll gehören und daß es unverantwortlich ist. an den Schulen eine Neuregelung einzuführen, die demnächst durchgreifend geändert werden muß". So ist es: Millionen neuer Rechtschreibbücher und anderer Materialien sind bereits überholt und unbrauchbar.
1997-07-19
Der Schriftsteller Gerhard Wagner hat wegen seines Widerstands gegen die Rechtschreibreform seine Anstellung im Buchhandel verloren. Er hatte die Kunden darüber aufgeklärt, daß der neue Duden schon jetzt Makulatur sei, und sie aufgefordert, statt dessen Geschenkgutscheine zu kaufen.
1997-07-04
Als den „Durchschnittsschreibenden” sollte man aber nicht Abc-Schützen anpeilen, wie das Zabel und anderen Reformern offenbar in erster Linie vorschwebt. […] Meiner Ansicht nach hätten Didaktiker in die zwischenstaatliche Kommission gar nicht hineingehört: Fragen der Vermittlung sind nämlich stets nachgeordnet gegenüber der Aufgabe, ein in sich einigermaßen kohärentes orthographisches System zu beschreiben. Das ist in erster Linie die Aufgabe von Sprachwissenschaftlern. Die haben in der Zwischenstaatlichen Kommission aber nur eine Minderheit dargestellt.
Auslöser der Proteste war zweierlei: Die neuen Rechtschreibwörterbücher, die nach dem Reformbeschluß der Kultusministerkonferenz in Millionenauflage auf den Markt kamen, sowie die sofortige Einführung der Reform an den Schulen Bayerns und anderer Bundesländer, zwei Jahre vor dem vereinbarten Termin im Herbst 1998. […] Am schwersten wiegen die Einwände gegen die Ausrichtung der Reform: Für vermehrte Großschreibung und vermehrte Getrenntschreibung, die - nach meiner Meinung - gegen die Grundstruktur unserer Orthographie und gegen die Sprachentwicklung verstoßen und darum intuitive Ablehnung erfahren. […] Rechtschreibreformen sind […] immer ein Gegenstand öffentlicher Debatte. Sie können nur erfolgreich sein, wenn sie hinreichend legitimiert sind und zumindest von einer Mehrheit der gebildeten Öffentlichkeit akzeptiert werden. […] Der Protest der Schriftsteller, der gebildeten Öffentlichkeit, der Einspruch von Linguisten, Juristen, Verlegern und Lehrern richtet sich jedoch nicht allein gegen bestimmte Mängel der Rechtschreibreform, sondern vor allem dagegen, daß diese Interessengruppen von der Willensbildung um eine Reform ausgeschlossen waren. […] Könnte man mit der Rechtschreibreform von vorne beginnen, wäre ein repräsentatives, beratendes Gremium beim Bundespräsidenten das geeignete Instrument, die Neuregelung der deutschen Rechtschreibung aus der Sicht aller Betroffenen zu prüfen.
1997-07-03
Denks argumentation mit dem urheberrecht einerseits und der unmöglichkeit eines nebeneinanders in der schule andererseits läuft darauf hinaus, der rechtschreibung jede änderbarkeit abzusprechen. Denn auch wenn die neuregelung inhaltlich anders aussähe, wäre mit dem widerstand lebender oder toter dichter zu rechnen. Wenn ich mir die historischen dimensionen vor augen halte, will es mir allerdings nicht so recht in den kopf, daß der entwicklungsstopp genau nach Lenz und Walser wirksam wird und nicht etwa nach Goethe, der bekanntlich Rath und Meubel schrieb. (Stellungnahme).
1997-07
Politische Wegbereitung zu längerfristigen Entkopplung der Standardisierung von staatlichen Regelungen: Die Informationsindustrie (Verlage, Wirtschaftsverbände . . .) sollten in Zukunft in die Verantwortung einbezogen werden, zumal - etwa beim Deutschen Institut für Normung (DIN) - Prozeduren vorliegen, die analog auf die Schreibnormung angewendet werden können. […] Ich hätte mir persönlich eine weitergehende Reform unter Einführung der gemäßigten Kleinschreibung gewünscht. Vielleicht dauert es auch nicht noch weitere 90 Jahre, bis man sich zur gemäßigten Kleinschreibung durchringt: Wir sagen ja auch beim Sprechen nicht jedesmal "Klick", um anzuzeigen, daß jetzt ein Substantiv gesprochen wurde.
1997-06-28
Er [Zabel] habe auch kein Verständnis für Eisenberg, der sich als Reformgegner in die Kommission habe hineinwählen lassen. Für seine öffentliche Aussage in einer Berliner Talkshow, die Reform sei sprachwissenschaftlich unhaltbar und gehöre auf den Müll, habe sich Eisenberg inzwischen in der Kommission tausendfach entschuldigt.
1997-06-23
Die deutsche Sprache und Kultur ist niemals von konstitutiver Bedeutung für das Entstehen oder die Definition deutscher Staatlichkeit gewesen. […] Was nun die Rechtschreibreform betrifft, so hat das Bundesverfassungsgericht in seinem Urteil vom 21. Juni 1996 auf die Berliner Konferenz von 1901 verwiesen. Diese Konferenz fand zwar auf Einladung der Reichsregierung statt, war aber ohne jede verfassungsrechtliche Bedeutung. […] Der damalige Bundesrat, der den Gesetzesbefehl erteilte (nicht der Reichstag), beschloß lediglich eine Empfehlung an die Länder (kein Gesetz), die Reform umzusetzen […].
1997-06-18
Von der ss-Regel abgesehen, die nichts einfacher macht, sind sogar nur 45 verändert, also umgerechnet nur eines von 383 Wörtern. Das ist viel zu wenig, um irgendeine Erleichterung zu ermöglichen. Und wegen so weniger Änderungen sollen die Bücher neu gedruckt und alle Computer umgestellt werden und alle Schulen und alle Behörden und (wie es im „Amtlichen Regelwerk” definitiv heißt) „alle, die sich an einer allgemein gültigen Rechtschreibung orientieren möchten”, mühsam umlernen?
1997-06-17
Die Kompetenz des Bundes aus der Natur der Sache hat bislang in der Diskussion um die Rechtschreibung keine angemessene Beachtung gefunden. Der Bund sollte daher die Chance zu einer Neuregelung alsbald nutzen.
1997-06-13
Ein Stopp der Rechtschreibreform kommt aus Sicht der Kultusminister nicht in Betracht. Der Unmut auch aus dem Bundestag lasse lediglich einen schlechten Informationsstand erkennen, sagte der Präsident der Kultusministerkonferenz (KMK), Rolf Wernstedt (SPD), Anfang Juni in Bonn.
Arg spät hat sich bekanntlich auch der Deutsche Bundestag der neuen Rechtschreibregeln angenommen, haben sich Reformgegner hinter einem Antrag des F.D.P.-Abgeordneten Detlef Kleinert formiert. Anfang Juni befaßte sich der Rechtsausschuß in einem Hearing mit der höchst strittigen Materie. […] Vehement bestritt Prof. Rolf Görschner (Jena) der KMK das Recht, eine neue Rechtschreibung vorzugeben. Mit der Reform greife die Exekutive „weit über den Schulbereich hinaus in die gesellschaftliche Sphäre ein“.
1997-06-12
Vom 1. August an kann an den Schulen im Hochtaunuskreis die neue Rechtschreibung praktiziert werden. Ein Jahr später muß die Reform an allen Schulen und in allen Jahrgängen umgesetzt werden. Die Schulen dürfen die überarbeiteten Bücher schon bestellen, mehr Geld erhalten sie dafür nicht. […] Die Verwirrung sei im Moment groß, sagt Realschulleiter Jürgen Schmitt. Ein Hauptproblem der Jugendlichen: Sollen Bewerbungsschreiben bereits nach den neuen Regel geschrieben werden oder „Hält man uns dann für doof, dumm oder blöd“?
1997-06-07
Zunächst also wird von den Gegnern der Rechtschreibreform eine Kompetenz des Bundes in Anspruch genommen "kraft Natur der Sache". Weiter aber heißt es, daß auch der Bund eine solche Regelung nicht auf dem Verwaltungswege treffen könne (wie es das Deutsche Reich bei der letzten Rechtschreibreform im Jahre 1901 getan hat). Vielmehr greife hier die vom Bundesverfassungsgericht entwickelte "Wesentlichkeitstheorie" ein, wonach Gegenstände, die von erheblicher Bedeutung sind und in Grundrechte eingreifen, vom Gesetzgeber "selbst" geregelt werden müssen — dann auch mit der verfassungsrechtlich gebotenen Zitierung der jeweils eingeschränkten Grundrechte. Bei der Rechtschreibreform kommen in Frage das allgemeine Persönlichkeitsrecht, aber auch das elterliche Erziehungsrecht.
Siehe stellungnahme des Bundes für vereinfachte rechtschreibung!
Die Reform erschwert das Lesen, indem sie Buchstaben, die als Lesehilfe dienten ("ß" nach kurzem Vokal: "Flussaal", "Nasschemie", "Fressorgie", "hasserfüllt"), logische Trennungsregeln ("ab-strakt" jetzt auch "abst-rakt", "Gras-steppe" jetzt auch "Grass-teppe", "kuß-echt" jetzt "kuss-echt", aber auch "kus-secht", "Miß-stand" jetzt auch "Misss-tand") sowie Gliederungselemente von Sätzen (Kommas vor erweitertem Infinitiv und im Klammersatz) beseitigt.
Dafür prägte man 19 jahre später den begriff «fake news».
1997-05-30
Inzwischen haben aber zwei Mitglieder der zwischenstaatlichen Kommission ihre Scheu überwunden und […] sich von der Reform distanziert und sie für irreparabel erklärt: Professor Peter Eisenberg […] und nun auch Professor Horst Haider Munske […]: Dieses Kuckucksei müsse man zerstören. Beide Reformer verdienten nur dann Dank, wenn sie ihren Worten nun auch Taten folgen ließen, die "Abrißbirne" nicht nur schwingen, sondern sie auch tatsächlich "gegen die Ruine ‚Rechtschreibreform‘" krachen ließen.
1997-05-12
Das Volk der ehemals mit einem gewissen Geschick Deutsch schreibenden und sprechenden Dichter und Denker zerfleischt sich über Rechtschreibfragen, aber es kennt die Sprachglosse nicht mehr, die einst radikalste Form der Sprachkritik. Karl Kraus wäre heute nicht mehr als «Fackel»-Kritiker von der Partie, sondern agierte, sagen wir, unter dem Namen Friedrich Denk. Das «Wörterbuch des (politischen und technokratischen) Unmenschen», «Die Sprache in der verwalteten Welt» – das war einmal, so schulmeisterlich, so besserwisserisch, so sprachkonservativ, wie es sich für einen leidenden Liebhaber der Sprache gehörte, die Domäne der Sprachglosse. Doch heute ruft der Reform-, nicht der Sprachkritiker lieber die Sprachverwaltungsgerichtsbarkeit an.
1997-05-09
Das Baselbieter Kantonsparlament hat der Kantonsregierung gegen deren Willen den Auftrag erteilt, bei der Schweizer Konferenz der Erziehungsdirektoren "den Nicht-Vollzug" zu beantragen.
1997-04-21
Als letzter Redner tritt der Abgeordnete Höllein ans Pult. Er spricht für die Fraktion der Kommunistischen Partei und erklärt, daß seine Fraktion dem Antrag zustimmt, "um den Anfang für eine einheitliche Durchführung der Rechtschreibung in Deutschland zu machen, um so von unten her in dieser Frage endlich zur Einigkeit zu gelangen". […] Es kommt zur Abstimmung, der Antrag wird angenommen, die Rechtschreibreform an die Ausschüsse verwiesen, die Sitzung geschlossen. Die geschilderte Debatte hat in der 61. Sitzung des Deutschen Reichstages stattgefunden, und zwar am 16. Mai 1925 […]. Allerdings sprachen Theodor Heuss und seine Kollegen nicht über die Rechtschreibreform, sondern über die Reform der Stenographie und die Einführung der Einheitskurzschrift
1997-04-19
Am Freitag mittag hat sich in Bonn eine düstere Ahnung bestätigt. Das Interesse der politischen Klasse an der Reinerhaltung der deutschen Sprache kennt seine engen Grenzen. Ein Blick in das Plenum des Deutschen Bundestages ließ den tiefen Wahrheitsgehalt dessen erahnen, was die Sozialdemokratin Hartenstein ebendort mahnend vortrug: Die Bedeutung der jüngsten Rechtschreibreform wird in der Öffentlichkeit weit unterschätzt.
1997-04-18
Einem Kultusminister, der wie seine Kollegen behauptet hatte, durch die Rechtschreibreform gehe kein einziges Wort verloren, sagte ein Kritiker: "Ich hoffe, Sie können wieder sehen, wenn wir uns wiedersehen." Ob dem Minister wohl bekannt war, daß rigorose Vorschriften für das Getrenntschreiben solch ein Wortspiel unmöglich machen? Es ist ihm wohlbekannt. Er weiß auch, daß ein frischgebackenes Ehepaar schwerer zu verdauen ist als ein frisch gebackenes. Trotzdem bleibt dieser Wörterfresser stur. Eine Kehrtwende mag ihm schwerfallen, weil er dabei schwer fallen könnte.
1997-04-14
Viele unerfreuliche Begegnungen zwischen Lehrern und Eltern sind programmiert, wenn im Diktat der Lehrer zum Beispiel nach dem Duden entscheidet und die Eltern sich auf die Schreibweise von Wahrig oder Bertelsmann oder eines anderen Wörterbuchs beziehen. Und es wird sicher Eltern geben, die deswegen vor Gericht gehen.
1997-04-04
Millionen Deutsche sind in ihrem — plötzlich wiedererwachten — Sprachgefühl und Sprachvertrauen verletzt und verstört. Schriftsteller, Journalisten, Verleger, Lehrer, Sprachwissenschaftler haben inzwischen ein vernichtendes Urteil über die sogenannte Reform und das Vorgehen der Betreiber gefällt; die Kritik geht zunehmend in Hohn und Spott über.
1997-04-02
Aprilscherz / Was gilt in bernischen Landen heuer als besonders lustig? […] Wahr ist, dass die neue Schreibung der deutschen Sprache unausweichlich auch das Bernbiet erfassen wird. Unwahr ist hingegen, dass gleichzeitig eine orthographische Revolution die bernische Geographie umkrempeln wird: Die im «Bund» von gestern vorgestellten «revidierten» Ortsnamen Tun, Fechingen, Iegensdorf, Itingen, Kersaz, Langental, Lis, Niderbib, Uzensdorf und Zolikofen waren blosse Erfindung, waren ein Scherz.
1997-04-01
Trotz heftigen Protesten gegen das regierungsrätliche Vorhaben, dieser Tage die ersten bernischen Ortsnamen der neuen deutschen Schreibung anzugleichen: Die Regierung hält an der «unumgänglichen neuen Schreibweise» fest. Die bernische Kantonsregierung beeilt sich für einmal in unbernischem Tempo, die Ortsnamen der Rechtschreibereform anzupassen.
Der Kanton Bern prellt in einem Pilotprojekt vor, ohne die Gemeinden begrüsst zu haben: Neu heisst etwa Thun offiziell Tun.
1997-03-25
„Schreiben, wie man spricht“, lautete viele Jahrhunderte lang das fortschrittliche Ideal für die Rechtschreibung. […] Der Sprachhistoriker Bernard Cerquiglini hat die Orthographiediskussion in Frankreich für den Zeitraum vom zwölften Jahrhundert bis 1694 nachgezeichnet.
1997-03-20
Wurde ein einziger Kritiker zu einem Gespräch eingeladen? Nein. Vielmehr verhöhnte Hans Zehetmair die bedeutendsten deutschsprachigen Autoren, sie seien "offenbar von einer mehrjährigen Auslandsreise zurückgekehrt" […].
Da jedoch viele bekannte Schriftsteller und führende Zeitungen bereits erklärt haben, daß sie die Rechtschreibreform ignorieren wollen, richten sich nun die Maßnahmen gegen den wehrlosesten Teil der Gesellschaft, die "den Kultusministerinnen und Kultusministern anvertrauten Schülerinnen und Schüler" […].
1997-03-18
Während im deutschsprachigen Raum die Duden-Kommission wie ein Strafgericht über gutes und schlechtes Deutsch urteilt, gibt es für die Weltsprache Nummer eins keine entsprechende Institution. Lediglich eine Zweimannshow wacht über die englische Sprache.
1997-03-16
Gemäss dem Sonntags-Blick-TED vom letzten Wochenende wollen 92 Prozent der Anrufer die Rechtschreibereform sofort stoppen! Ein Reizthema ist die neue Orthographie vor allem für ältere Menschen. 70 Prozent der Abstimmenden waren älter als 50jährig. […] Der Baselbieter SD-Nationalrat Rudolf Keller hat diese Woche eine parlamentarische Initiative eingereicht. […] Der Schriftsteller und vehemente Reformgegner Adolf Muschg findet politische Massnahmen überflüssig: «Es reicht, die am grünen Tisch ausgeheckte Reform zu ignorieren.»
1997-03-15
Wenn überhaupt der Staat die Rechtschreibung regeln soll, dann kann die Kompetenz nur beim Bund liegen, gemeinsam mit den zuständigen Verfassungsorganen der anderen deutschsprachigen Staaten. Aber haben wir es nicht gerade hier mit einem Komplex zu tun, der bestens ohne staatliche Eingriffe funktioniert hat?
1997-03-12
Um sich verständigen zu können, braucht man ganz wenig Regeln und sehr viel Freiheit und keine Professoren und noch weniger Ministerialräte.
1997-03-09
Die Schweizer sind Musterknaben: Lehrer und Schüler büffeln bereits heute die neuen Orthographie-Regeln. […] Doch die pflichtbewussten Schweizer werden möglicherweise bestraft für ihre Eile. Denn in Deutschland wächst der Widerstand gegen die Rechtschreibereform. […] «Wir lassen uns von der Störmusik aus Deutschland nicht beeinflussen und halten uns an die Abmachungen», sagt Christian Schmid von der Konferenz der kantonalen Erziehungsdirektoren bestimmt. […] Schweizer Schriftsteller wie Peter Bichsel und Adolf Muschg boykottieren die neue Rechtschreibung sowieso. Mit ihnen einige Schweizer Buchverlage. Jetzt melden sich aus dem Nationalrat Stimmen gegen die Reform. Freiheitsparteichef Roland Borer fordert: «Übung abbrechen!» […] Liebe Leserinnen und Leser, uns interessiert Ihre Meinung. Soll die Rechtschreibereform in der Schweiz gestoppt werden?
1997-03-05
Mir ist keine einzige Widerlegung der sachlichen Einwände gegen die Rechtschreibreform bekannt, auch nicht der Versuch, sie zu widerlegen. Sie sind unwiderlegbar. Deshalb, scheint mir, mauern die Kultusminister.
[…] die selbstherrliche Kulturbürokratenkaste […] will den Deutschen durch autoritäre Verwaltungsakte beibringen, wie sie zu schreiben und damit auch zu reden haben. […] Deutsche orthographische Regelwerke vermochten immer nur, dem Volk "aufs Maul", sprich: auf den Federkiel, zu schauen und gültigen Sprach- und Schriftgebrauch aufzuzeichnen, zu systematisieren und in Regeln zu fassen. Genau dies ist über Jahrzehnte die Tugend des "Duden" gewesen. […] Was aber jetzt als Rechtschreibreform mit obrigkeitsstaatlichem Druck durchgesetzt werden soll, ist das Gegenteil: ein autoritärer Verwaltungsakt.
1997-03-04
Nun aber gibt der Aufbau-Verlag einen Kriminalroman von Nino Filastò heraus […]. Im Original trug das Buch den Titel «La moglie egiziana», in der Übersetzung entschied man sich […] für «Der Irrtum des Dottore Gambassi». Ähnlich wie il canale verliert il dottore das Schluss-E, wenn ein Name folgt. Soviel wussten auch die Berliner Lektoren. Die Abweichung rechtfertigen sie wie folgt: «Um dem deutschen Sprachempfinden entgegenzukommen, hat sich der Verlag entschlossen, das korrektere ‹Dottor Gambassi› im Titel abzuwandeln in ‹Dottore›.» Ob das eine kompensatorische Massnahme im Rahmen der Orthographiereform ist, welche dem verletzlichen deutschen Sprachgefühl offenbar doch mehr Kränkungen zufügt als ursprünglich vorausgesehen?
1997-02-28
Es bringe Deutschland nicht voran, wenn das Wort «Schiffahrt» künftig mit drei statt zwei «f» geschrieben werde, hat Theo Waigel am traditionellen politischen Aschermittwoch seiner Partei in Passau erklärt.
Adressaten: fraktionen des deutschen bundestages. Die Konferenz der Kultusminister der Länder (KMK) war und ist zuständig für derartige Regelungen. Niemand hatte dies jahrzehntelang bestritten. […] Ich denke, dass die meisten der "Sorgen" absolut unbegründet sind.
1997-02-21
Wenn «Facts» etwa ein ganzes Dossier mit «Steuertipps» statt «Steuertips» zum besten gibt, denken wir, dass uns das zwar vielleicht Steuern sparen hilft, nicht aber Lesezeit.
Eine Rechtschreibreform ist nur dann sinnvoll, wenn sie ohne Gefährdung der Sprachkultur das geltende Regelwerk für die Rechtschreibung durch Toleranz und Deregulierung vereinfacht. Die folgenden fünf Vorschläge sollen diesem Zweck dienen und sind dazu bestimmt, eine von ihrer eigenen Kasuistik und Rabulistik verwirrte Rechtschreibreform überflüssig zu machen: 1. "Scharfes S" entschärfen. 2. Drei gleiche Konsonanten entzerren. 3. Nur eine einzige Kommaregel beachten. 4. Silbentrennung als unwichtig ansehen. 5. Grenzfalltoleranz üben.
1997-02-05
Kaktus: Fettnäpfchen, Rechtschreibung, Links oder rechts? […] Wie geht es nun eigentlich mit der Rechtschreibe-Reform weiter?
1997-02
Mit Blick auf die vielen misslungenen und wenigen gelungenen Bemühungen um eine Reform der deutschen Rechtschreibung lässt sich festhalten [Gallmann/Sitta]: «Ein gesellschaftliches Normenwerk wie die Rechtschreibung lässt sich nicht eigentlich reformieren; man kann es pflegen, kann Wildwuchs beseitigen, aber nicht mehr.»
1997-01-29
Schüler, Lehrer und Verwaltungsbedienstete sind von den orthographischen Neuerungen am stärksten betroffen. Zum geballten Massenprotest haben sie sich bisher nicht aufraffen können. Den besorgen in Bayern und Schleswig-Holstein die Initiativen «Wir gegen die Rechtschreibreform».
Vor kurzem ist die zwischenstaatliche Kommission eingesetzt worden, deren Aufgabe es eigentlich sein sollte, die weitere Entwicklung der Rechtschreibung zu beobachten und zu steuern. Nun wird sie aber — das ist bereits zugesagt — für längere Zeit damit beschäftigt sein, das Reformwerk selbst nachzubessern.
1997-01-28
Auf den Einzelantrag, Stellung zur Rechtschreibereform zu beziehen, wurde nicht eingetreten. «Wer Sprachveränderungen fürchtet, soll Latein schreiben», meinte ein Autor.
1997-01-11
Wer vom ersten Tag an, seit unserer Pressekonferenz auf der Frankfurter Buchmesse am 6. Oktober 1996, unser gemeinsames Unternehmen („Denk & Co. ” schreibt Professor Zabel) begleitet oder auch nur beobachtet hat, ist voller Bewunderung für seinen schier unfaßbaren Aufwand an Kraft, Freizeit und finanziellen Mitteln. Friedrich Denk hat Respekt, nicht schäbige Verdächtigungen verdient.
1997-01-10
Für die meisten Eidgenossen ist das keine Sünde wider die Sprache, sondern eine Reform, die manche Spitzfindigkeit beseitigt und das Schreiben einfacher macht, etwa bei den Komma- und Trennungsregeln. Diese Unaufgeregtheit ist nicht allein Schweizer Pragmatismus zuzuschreiben. Ein mehrsprachiges Land muß beim Reden und Schreiben gelassener, wenn nicht gar toleranter sein. […] Nicht einmal die Kosten der Reform irritieren die Schweizer, die doch sonst als Rappenspalter bekannt sind.
1997-01-09
Es sieht so aus, als habe die politische Exekutive einen Fehler begangen, als sie die Rechtschreibung in ihre Regie nahm. […] Das Monopol des Duden sei nun gebrochen, frohlocken die Anhänger der Reform. Das sei gut, weil ein Privatunternehmen keine normgebende Instanz sein dürfe. Aber dieses Argument beruht auf einem Irrtum. Denn in den vergangenen Jahrzehnten war der Duden keine normgebende Instanz mehr. Vielmehr billigte er in gebührendem Abstand, was der Sprachgebrauch ihm vorgab, Vernünftiges wie Unvernünftiges. Allein die Reformer und ihre Kultusbürokratie glauben noch an die Norm. […] Die Reform versucht, etwas zu reparieren, was bestimmt nicht schlechter funktionierte als das, was an seine Stelle tritt. Der Erfolg dieser Reparatur besteht darin, daß die Rechtschreibung ihre Verbindlichkeit verliert. […] Viel spricht dafür, daß die Reform sich nie durchsetzen wird.
Die "politische Exekutive" hat die rechtschreibung nicht "in ihre Regie" genommen, dort war und ist sie, weil der mensch die rechtschreibung in der schule und sonst nirgends lernt. Deshalb wird sich jede reform früher oder später durchsetzen, und deshalb ist es nicht ein "glaube" an die norm, sondern eine politische verantwortung.
1997-01-02
Dabei arbeiten die Herren Denk & Co. […] mit Mitteln der Irreführung und Manipulation. So zitieren sie den Herrn Bundespräsidenten bewußt verkürzt. Prof. Dr. Roman Herzog hat […] gesagt, er halte die Rechtschreibreform für „überflüssig wie einen Kropf”; für ebenso überflüssig halte er auch die Aufregung über die Reform. Er selbst werde seine Schreibung nicht umstellen, was sein gutes Recht ist!