Auch in allen anderen Ländern würden neben den neuen Regeln Kenntnisse über die alten vermittelt. Deshalb sei manches an der Aufregung schwer zu verstehen, »zumal es sich nicht um eine Reform, sondern eher um ein Reförmchen handelt«. Behler, die Kultusministerin in Nordrhein-Westfalen ist, bekräftigte ihre Auffassung, daß mit dem Volksentscheid in Schleswig-Holstein kein neuer Sachverhalt und damit auch kein Handlungsbedarf für die Kultusminister gegeben sei.
Bund für vereinfachte rechtschreibung (BVR)
Aus presse und internet
30. 9. 1998
Wie es in den Schulen im Land weitergeht, darüber sprach Cornelia Bolesch mit Bildungsministerin Gisela Böhrk (SPD). […] Böhrk: Im übrigen hat ja auch das Gesetz der Volksinitiative ein Verfallsdatum. Es fordert eine Rechtschreibung, wie sie "in der Bevölkerung seit langem anerkannt und in der Mehrzahl der lieferbaren Bücher verwendet wird". Was geschieht also, wenn in ein paar Jahren die Mehrzahl der Bücher die neue Rechtsschreibung enthält? […] Die anderen Länder werden dem Beispiel von Schleswig-Holstein nicht folgen. Dieser Zug ist abgefahren.
Nicht nur wegen der enormen räumlichen Distanz zu Schleswig-Holstein fühlen sich Österreich und seine Kultusbürokratie von dem Volksentscheid über die Rechtsschreibform kaum berührt.
In den Schulen findet das Nebeneinander zweier gültiger Regelwerke keine Freunde. Schulleiter wissen nicht mehr, woran sie sich halten sollen. Von "Wir unterrichten erst einmal weiter nach den neuen Regeln" bis "Wir machen keine Übungen zur neuen Rechtschreibung mehr" lauten die Devisen.
Gabriele Behler, die derzeitige Präsidentin der Kultusministerkonferenz, machte gestern Hoffnungen der Reformgegner zunichte, mit dem schleswig-holsteinischen Volkentscheid sei das Projekt für ganz Deutschland gescheitert. […] Die neue Schreibweise der deutschen Sprache werde weiterhin bundesweit problemlos unterrichtet. "Es ist viel Lärm gemacht worden um wenige kleine Änderungen."
29. 9. 1998
«Es geht nicht an, daß wir in verschiedenen Bundesländern verschieden schreiben» - die anderen Länder müßten sich ebenfalls an die «urdemokratische Leitentscheidung» der Bürger Schleswig-Holsteins halten. Das sagt Matthias Dräger, Sprecher der Initiative «Wir gegen die Rechtschreibreform». […] Das Votum habe «keine bindende Wirkung» für die anderen 15 Bundesländer, bekräftigt die Präsidentin der Kultusministerkonferenz (KMK), Nordrhein-Westfalens Schulministerin Gabriele Behler. In Berlin bleibt es ebenfalls beim Unterricht nach der seit 1. August geltenden reformierten Rechtschreibung. Das bestätigt Schulsenatorin Ingrid Stahmer der Berliner Morgenpost. Die Neuerung sei gut angenommen worden. […] Die Senatorin wünscht sich aber endlich Rechtssicherheit. Gleichwohl sehen sich die Reformgegner landauf, landab durch das Ergebnis im Norden bestärkt. Die 60 Mitglieder der Berliner Bürgerinitiative «Wir sind das Rechtschreibvolk», die vor einer Woche ihr Volksbegehren starteten, wollen sich an der Strategie der Schleswig-Holsteiner orientieren. […] Für den Schriftsteller und engagierten Reformgegner Günther Grass bietet der Erfolg zumindest «eine Möglichkeit, noch einmal nachzudenken».
Die Kultusminister der Länder haben den Unwillen vieler Bürger zu spüren bekommen. […] Wenn die Bürger die Reform nicht akzeptieren, wird sie sich totlaufen. Mit oder ohne Volksentscheid.
Auf die Nachrichten aus Kiel bekundeten Gegner der Rechtschreibreform zum Teil überschwenglich ihre Freude. Der Präsident der deutschen Akademie für Sprache und Dichtung, Christian Meier, nennt sie ein "beglückendes Ergebnis". […] Vertreter von Lehrerverbänden dagegen warnen vor der Verwirrung an den Schulen, die nach dem jahrelangen Streit schon groß genug war.
Matthias Dräger, Sprecher der Initiative "Wir gegen die Rechtschreibreform", ist sicher, daß vom Volksentscheid im Norden eine "Signalwirkung für den gesamten deutschen Sprachraum" ausgehe und in der Folge weitere Bundesländer aus der Rechtschreibreform-Riege ausscheren werden. […] Die Lehrerverbände im Norden reagierten entsetzt auf den Stopp der Rechtschreibreform.
"Das Ergebnis ist absurd", urteilt Dr. Harri Heise, Direktor des Werner-Heisenberg-Gymnasiums[,] zum Ausgang des Volksentscheides über die Rechtschreibreform.
Wer da, wo er zuständig ist, nichts zustande bringt, wer die Schulen verkommen und die Hochschulen ertrinken läßt, wird gierig nach jeder Gelegenheit greifen, so etwas wie Handlungsfähigkeit doch noch zu beweisen und allen Zweiflern den Mund zu stopfen. Deswegen gelang den Kultusministern bei der Rechtschreibreform etwas, was ihnen sonst nur ausnahmsweise gelingt, eine Entscheidung nämlich.
Der Präsident der deutschen Akademie für Sprache und Dichtung in Darmstadt, Christian Meier, sprach am Dienstag von einem "beglückenden Ergebnis" des Referendums und einem "schönen Sieg für die Bürger über eine anmaßende Exekutive".
Da mögen sie abwiegeln wie sie wollen: daß der Volksentscheid nur für Schleswig-Holstein gelte und kein anderes Bundesland binde. Das ist korrekt, nützt aber gar nichts. Die deutsche Rechtschreibung steht erneut zur Debatte. […] Also, Rechtschreibreform zum Wasweißichwievielten, wenn's auch ermüdet.
Die Reaktionen gestern reichten von Befriedigung in den Kreisen der Reformgegner bis zum Entsetzen. […] "Die Welt geht nicht unter", ließ der Leiter der Mannheimer Duden-Redaktion, Matthias Wermke, verlauten. […] Professor Dieter Herberg, Mitglied der Rechtschreibkommission am Mannheimer Institut für deutsche Sprache, sprach unserer Zeitung gegenüber zwar von einer "prekären Lage", die aber "für den Rest der deutschsprachigen Welt" wenig Bedeutung habe.
Ein neuer Kanzler, neue Gesichter, neue Themen - nur in Schleswig-Holstein kocht man die alten wieder auf. […] Die Leidtragenden, da haben die Lehrerverbände recht, sind die Kinder, auch die Lehrer. Sie werden im Gewirr von Halbwissen und ideologisch gefärbten Emotionen, wie sie die Argumente der Rechtschreibgegner weitgehend prägen, noch einmal zu Opfern einer Auseinandersetzung gemacht, die längst an Schubkraft verloren hat.
Die Wählerinnen und Wähler in Schleswig-Holstein haben das Schulgesetz geändert; daran haben alle sich zu halten. […] Es ist ein dreistes Stück, daß die Bildungsministerin den verbindlichen Volksentscheid nun als eine Art Kann-Bestimmung nehmen und die Rechtschreibung an den Schulen gewissermaßen freigeben will. […] Entweder vom Norden geht ein Signal aus, das zu gleichen Volksentscheiden auch in anderen Bundesländern führt - das würde die Rechtschreibreform generell in Frage stellen. Oder das Signal geht ins Leere, dann brauchen Böhrk und andere nur zuzuwarten, bis die Mehrzahl der lieferbaren Bücher nach den neuen Regeln der Rechtschreibung abgefaßt ist.
Daß die Kieler Landesregierung künftig in den Schulen zwei Schreibweisen zulassen will, damit im Noden nicht die befürchtete "Sprachinsel" entsteht, ist zwar verständlich, dürfte aber in der Praxis vor allem zur Verwirrung bei den Schülern führen. So könnten die Eltern das Gegenteil von dem erreicht haben, was sie beabsichtigten: Klarheit auf der Basis dessen, was auch bisher als richtig galt.
Schleswig-Holsteins Kultusministerin Gisela Böhrk verfiel bereits am Wahlabend in Katastrophenstimmung. […] Bei WIR ist man hingegen euphorisch. […] Bei aller Trickserei [mit einem fast gleich lautenden gegenvorschlag] unterblieb eine inhaltliche Auseinandersetzung mit der Initiative fast vollständig. Offenbar aus Angst, in Wahlkampfzeiten wenig geliebte Positionen zu vertreten, wurde den Populisten und Schlimmerem das Feld überlassen: Einer der führenden Köpfe der Initiative, Detlef Lindenthal, ist auch sonst ganz rege. Im russischen Oblast Kaliningrad war er 1992 für die »Aktion Deutsches Königsberg« des Kieler Verlegers, Buchhändlers und Faschisten Dietmar Munier aktiv. Auch Wolfgang Deppert, Philosoph an der Kieler Universität und ehemaliger Vorsitzender der rechtsextremen Sekte »Deutsche Unitarier« engagierte sich bei WIR gegen die Reform.
Mit Kritik haben die Lehrerverbände auf den Entscheid gegen die Rechtschreibreform in Schleswig-Holstein reagiert.
Kultusministerin Gisela Böhrk (SPD) plant einen Erlaß, wonach zwar die neuen Schreibweisen ab November an den Schulen nicht mehr gelehrt und geübt werden dürfen. Zugleich aber sollen auch die neuen Schreibweisen auf Dauer akzeptiert und nicht als Fehler gewertet werden. […] Die CDU-Bildungsexpertin Angelika Volquartz protestierte: "Das ist eine Mißachtung des Volksentscheides." Sie und die Initiative "Wir gegen die Rechtschreibreform" forderten Böhrk zum Rücktritt auf. […] Ulrich Kliegis, Vorsitzender des Elternvereins, sagte, der Volksentscheid mache es möglich, daß die Eltern ihren Kindern endlich wieder beim Rechtschreiben helfen können. […] Irene Fröhlich, Vorsitzende der Grünen-Landtagsfraktion, wirft der SPD vor, das Gezerre um den Text des Abstimmungszettels und den Abstimmungstermin habe die Abwehrhaltung der Bevölkerung gegen die Schreibreform gesteigert. Sie glaubt aber, nach einer Übergangsfrist von zwei bis drei Jahen werde auch Schleswig-Holstein wieder zur Schreibreform zurückkehren.
Der "Neuschrieb" soll, als hätte es den Volksentscheid nicht gegeben, auf unbegrenzte Zeit an den Schulen neben der herkömmlichen Schreibweise gleichwertig anerkannt bleiben. […] Jetzt ist die letzte Chance, die Reform bundesweit zu stoppen und zu korrigieren. Wenn Böhrk das immer noch nicht erkennt, sondern sich in erneuten Tricksereien übt, wird sie bald ihren Hut nehmen müssen.
Der Weilheimer Deutschlehrer und "Rechtschreibrebell" Friedrich Denk hat den Ausgang des Volksentscheids über die Rechtschreibreform in Schleswig-Holstein als "großen Erfolg der Demokratie und der Vernunft" begrüßt. […] Denk hatte im Spätherbst 1996 knapp 50 000 Unterschriften für eine Volksinitiative gegen die Rechtschreibreform in Bayern gesammelt.
Der Volksentscheid in Schleswig-Holstein habe keinerlei Auswirkungen auf Österreich, erklärte das Büro von Ministerin Gehrer. Im Unterrichtsressort gehe man davon aus, daß sich in den übrigen Ländern Deutschlands nichts ändern werde.
Der Volksentscheid in Schleswig-Holstein war unsinnig. Er hätte im gesamten deutschsprachigen Raum stattfinden sollen - und zwar vor jener unseligen Kultusministerkonferenz von 1995.
Für den Fall, daß die Reformgegner recht behalten und die anderen Bundesländer — vom Beispiel Schleswig-Holsteins ermutigt — eigene Abstimmungen herbeiführen, befürchten die Experten ein großes Durcheinander: "Bei unterschiedlichen Ergebnissen wird die Bundesrepublik sehr kariert."
Fazit: Der Bund und Schleswig-Holstein schreiben nach den alten, die übrigen Länder nach den neuen Regeln. Von einer Vereinfachung durch die Rechtschreibreform kann kaum die Rede sein.
Rechtschreib-Reform und kein Ende: Die Kieler Landesregierung geh davon aus, daß das Votum gegen die Reform nur auf Zeit gilt. […] Ab November sollen die Schüler altes neu lernen - nachdem sie nun fast zwei Jahre nach den neuen Regeln unterrichtet wurden.
Nach alter und neuer regelung: ". . . sollen die Schüler Altes neu lernen".
Der Volksentscheid in Schleswig-Holstein gegen die Rechtschreibreform hat keine Wirkung für andere Bundesländer.
Erwachsene, die keiner zwingt, die neuen Regeln anzuwenden, haben entschieden: 312000 Schüler, die ohne Probleme seit zwei Jahren nach den neuen Regeln lernen, müssen als einzige in der Republik mitten im Schuljahr eine Rolle rückwärts machen. […] Niemand muß die neuen Regeln lieben, und jeder wird zustimmen, daß man sie frühzeitig hätte stoppen können. Aber kein tatsächlicher oder vermeintlicher Buchstabennotstand rechtfertigt jetzt noch das von den Gegnern zu verantwortende Chaos.
"Schadensbegrenzung" ist das Ziel der schleswig-holsteinischen Landesregierung, nachdem sich am Sonntag in einem Volksentscheid eine deutliche Mehrheit für die Beibehaltung der alten Rechtschreibung ausgesprochen hat. Bildungsministerin Gisela Böhrk (SPD) kündigte einen Erlaß an, der die Folgen des notwendigen neuen Schulgesetzes für Lehrer und Schüler möglichst gering halten soll. Künftig würden an den Schulen beide Schreibweisen akzeptiert. "Gelehrt und geübt" würden künftig aber nur die neuen Schreibweisen.
Eines möchte man jetzt auf keinen Fall sein: Lehrer an einer Schule in Schleswig-Holstein. […] Die Hoffnung der Reformgegner, ihr Votum könne die neue Rechtschreibung in ganz Deutschland zu Fall bringen, scheint trügerisch. So haben sie mit einem unbarmherzigen Bürgervotum ihre Kinder im Land zwischen den Meeren auf eine Sprachinsel verbannt.
Zusammen mit der Bundestagswahl wurde in Schleswig-Holstein über die Rechtschreibreform abgestimmt. Das Votum: Alles soll beim alten bleiben. Die Kultusministerin nimmt das Ergebnis betrübt zur Kenntnis.
Jetzt stehen die Kultusminister bundesweit vor einem Scherbenhaufen.
Nach dem erfolgreichen Volksentscheid gegen die neue Rechtschreibung in Schleswig-Holstein erwarten die Gegner der Rechtschreibreform einen Reformverzicht auch in den anderen Bundesländern.
Die juristische Einschätzung besagt nichts über die politischen Folgerungen. Denn durch das Ausscheren eines Landes wäre die Einheitlichkeit der deutschen Schriftsprache zerstört. […] So unterstrich der Bundesgeschäftsführer der SPD, Franz Müntefering, in einem Brief an die SPD-Basis vom 14. August 1997: "Sollte ein Land ausscheren, wäre die Reform gescheitert. Ein Rückfall in die ,orthographische Vielstaaterei', wie sie vor der Einführung der für alle verbindlichen Regeln 1901 herrschte, wäre die Folge. Das kann niemand wollen."
26. 9. 1998
Wie immer der Volksentscheid ausgeht, die Kultusminister werden - zunächst - hart bleiben. Aber nach einer Schamfrist werden sie ihr Reförmchen reformieren - hoffentlich.
24. 9. 1998
Sind Sie für die "allgemein übliche Rechtschreibung"? Oder sind Sie für die "allgemein übliche Rechtschreibung"? Oder lehnen Sie beides ab? So etwa mögen dem schnellen Leser in der Wahlkabine die Fragen erscheinen, über die die Schleswig-Holsteiner am 27. September entscheiden sollen. […] Die Kieler Landesregierung versucht offensichtlich den Wähler in die Irre zu führen. […] Die Arroganz, mit der die Kultusbürokratie in der Bundesrepublik Deutschland alle Kritik auch der Gutwilligsten beiseite gewischt hat und jeder demokratischen Behandlung des strittigen Themas aus dem Weg gegangen ist, und die Demagogie, mit der jetzt die Wähler Schleswig-Holsteins hinters Licht geführt werden sollen: das hat eine Abfuhr von den Bürgern verdient.
23. 9. 1998
Es wird eng in Kiel - davon sind sowohl die Gegner als auch die Befürworter der Rechtschreibreform überzeugt. […] Die Reformgegner könnten am Sonntag aber auch einen Pyrrhussieg erringen. Denn ihre eigene Forderung »wie sie in der Bevölkerung und den Büchern anerkannt ist«, kann schon in fünf oder sechs Jahren für ein Umschwenken auf die neuen Regeln sprechen.
Ein Volksbegehren gegen die umstrittene Rechtschreibreform wurde in Berlin gestartet. Die Neuregelung soll durch eine Änderung des Schulgesetzes gekippt werden, teilte der Berliner Verein für Rechtschreibung und Sprachpflege (BVR) als Initiator mit.
Der grösste tiefschlag in der 74-jährigen geschichte des Bundes für vereinfachte rechtschreibung (BVR): ein gegnerischer verein mit der gleichen abkürzung!
22. 9. 1998
Mit einem Volksbegehren wollen jetzt auch Berliner Initiativen die Hauptstädter gegen die Rechtschreibreform mobil machen. Unter dem Motto «Berlin zeigt den Kultusministern die rote Karte!» sollte die Aktion am Montag abend im Magnus-Haus in Mitte starten.
21. 9. 1998
Ihr Bericht "Jeder kann schreiben, wie er will, und wie er denkt, daß er verstanden wird" (F.A.Z. vom 1. August) läßt im Ausland den Eindruck entstehen, das für Ordnung und Disziplin bekannte Deutschland sei dabei, mit behördlicher Mithilfe den Niedergang seiner Sprache zu betreiben. […] Aus französischer Sicht wirkt der Dilettantismus befremdend, mit dem in Deutschland von den verschiedensten Seiten an der Sprache herumlaboriert wird.
Meier: Anscheinend findet bislang keiner etwas dabei, daß von der Sekretärin bis zum Staatssekretär alle Beamten und Angestellten durch die Innenminister dazu verpflichtet werden sollen […], sich auf die Schulbank zu setzen und den einstweilig gültigen Unsinn auch noch zu lernen. Eine unglaubliche Anmaßung.
19. 9. 1998
Der [Reform-]Bedarf wäre an einigen Stellen sicherlich gegeben. Doch mit Fortschritt hat die Reform nichts zu tun, sie verdient ihren Namen nicht. In vielen Punkten zielt sie darauf ab, die Sprachentwicklung zu ignorieren. Außerdem führt sie zu einer Reduzierung der Lesefreundlichkeit.
Durch die Reformgegner wird das Prinzip "Rechtschreibung" in einem Maße aufgewertet, das der Rechtschreibung gar nicht zukommt. […] Die Angstmacherei ist das Unangenehmste in der ganzen Diskussion. […] Es handelt sich um harmlose Veränderungen, die zum großen Teil positiv sind, die den Schülern das Lernen unübersehbar erleichtern. […] Ich habe vor zehn Jahren — wie viele Sprachwissenschaftler auch — die Meinung vertreten, daß eine viel radikalere Reform eintreten müßte. Beispielsweise bin ich für eine ausgeprägte Kleinschreibung gewesen.
17. 9. 1998
Der EU-Sprachendienst erstellte eine Liste von 1500 österreichischen Worten als Handreichung für Dolmetscher.
Dodo Hug prangert auf subtile Weise gesellschaftliche Missstände und Fehlentwicklungen an. […] Ebenso bietet sie witzige Beiträge zur laufenden Diskussion rund um die neue deutsche Rechtschreibung. Etwa dann, wenn sie den punto (Punkt), das virgoletta (Komma), die parentesi (Klammern), den punto interrogativo (Fragezeichen) und den punto esclamativo (Ausrufezeichen) schalkhaft und charmant miteinander konferieren lässt.
Zur frage der schreibweise von «Maß» am oktoberfest.
Die bewegende Frage lautet, ob die "Maß" Bier richtig ist oder ob man jetzt die "Mass" Bier schreiben muß. […] In völliger Verkennung der süddeutschen Sprechgewohnheiten gebe der neue Duden aber dennoch als richtige Schreibweise weiterhin ausschließlich "die Maß" an, was nur eines von etlichen Beispielen sei, wie die neue Rechtschreibung die Pflege des bayerischen Dialektes erschwere.
10. 9. 1998
Für die Öffentlichkeit bestimmte amtliche Dokumente, Anträge an die Regierung, Parlamentsgeschäfte, Geschäftsberichte und Artikel in der Abstimmungszeitung werden ab diesem Datum den angepassten Regeln unterworfen.
Vor allem die Autoren, Professoren, ebenso die Massenmedien und damit die Öffentlichkeit hatten den Ernst der Angelegenheit, als alles noch zu verhindern gewesen wäre, nicht erkannt. Tatsächlich klang die Idee vor Jahren reichlich absurd: wozu eine Reform, wozu der Aufwand - das konnte doch nur der skurrile Einfall irgendwelcher Sonderlinge sein, der sich bald von selbst wieder ins Nichts auflösen würde.
7. 9. 1998
IM KANTON ZÜRICH erwägt man die Einführung des Englischen als erste Fremdsprache ab dem ersten Schuljahr ein Weg, den, falls die Schweiz der 51. Staat der USA würde, unser ganzes Land gehen müsste. Wir würden unsere vier Grundsprachen zwar zunächst wohl noch beibehalten uns aber über diese hinaus sofort gemeinsam in Englisch unterhalten können. Vorteile wären, dass die Deutschschweizer sich nicht mehr mit der leidigen deutschen Rechtschreibereform herumschlagen müssten und dass die Schriftsteller dieses Landes ihre Bücher direkt in Englisch schreiben könnten.
In diesem fall würde es den BVR freuen, sich als zweigverein der Simplified spelling society zu etablieren und sich mit der leidigen englischen rechtschreibereform herumzuschlagen.
5. 9. 1998
Goethe hat auch nicht nach dem Duden […] Nach der Rechtschreibreform ist eh alles wurscht […] Der Fortschritt rast: "Ulrike's Wollstudio" ist stinknormal. […] "Einkauf's Markt Hoffmann" Auch schon stinknormal?
3. 9. 1998
Wo fühlen sich Schweizerinnen und Schweizer unsicher, wenn sie korrekt schreiben wollen? Viel Kopfzerbrechen bereiten die Kommaregeln, wenig die Rechtschreibreform. Dies und anderes mehr zeigt eine Grobauswertung von über 1000 Anfragen bei der Sprachauskunft, die seit September unter neuer Leitung steht.
Deutsch, erfuhren wir schon im Sandkasten, ist nicht gleich Deutsch. […] Ein halbes Jahrtausend deutscher Hochsprache und die mit Ach und Krach über die Bühne gebrachte Rechtschreibreform haben nicht verhindert, dass Deutsche, Österreicher und Schweizer bisweilen per «Kannitverstan» miteinander kommunizieren.
9. 1998
Wenn die Chefrichter [des deutschen bundesverfassungsgerichts] behaupten, sie hätten nicht "Obergutachter" über die deutsche Sprache spielen wollen, so ist dies entweder tatsachenblind oder heuchlerisch zu nennen, denn von Anfang an unterstützten sie die Reform.
Die Gründe, warum manche oder viele Schreiber glauben, ß beim Worttrennen in s-s auflösen zu müssen, dürften einerseits lang zurückreichende historische Ursachen haben, anderseits im Streben nach einer einfach scheinenden Schreibpraxis ohne lange phonologische Reflexionen liegen, und schließlich drittens im schreibtaktisch-psychologischen Bereich.
1998-08-31
Die Schlacht um die Reform des rechten Schreibens hat der hartnäckige Studiendirektor aus Weilheim zwar verloren, aber aufgeben mag ein Friedrich Denk noch lange nicht - nun will er in den Bundestag.
1998-08-22
Was mich betrifft, blicke ich der Neuregelung ohne Enthusiasmus, aber mit Gelassenheit entgegen; denn die zunehmende Zahl von Studierenden, die sich an unsere Universitäten verirrt, ohne ihrer Muttersprache mächtig zu sein, wird sich dadurch kaum verringern.
19. 8. 1998
"Aufklärung tut bitter Not", sagt Peter Dietrich von der Initiative "Wir gegen die Rechtschreibreform".
Das ist tragisch: Die zeitung, die in alter schreibung erscheint, zitiert den anhänger der alten schreibung in neuer schreibung (alt: tut not, neu: tut Not).
14. 8. 1998
Aber seien wir doch mal ehrlich: Wer von uns hat die alte Schreibweise denn vollkommen fehlerfrei beherrscht? […] Sprache ist in vielen Fällen Definitionssache und wird wohl nie vollständig mit den Gesetzen der Logik zu erklären sein. Wenn die Reform zu etwas gut ist oder war, dann dazu, dass nun für viele Wörter Alternativen möglich sind und mehrere Schreibweisen richtig sind.
Daß es nicht den sprachwissenschaftlichen Obergutachter spielen wolle, hatte das Gericht ja schon zu Beginn des Verfahrens angekündigt. Es hat sich aber doch zum sprachwissenschaftlichen Obergutachter aufgeschwungen, indem es über eine rein sprachwissenschaftliche Frage autoritativ entschied […]. Die Folgen des Fehlurteils sind verheerend vor allem darum, weil das Karlsruher Urteil unserer Demokratie erneut ein obrigkeitsstaatliches Korsett verpaßt. In einer Zeit des geradezu inflationären Geredes von ”Deregulierung” hat Karlsruhe die Minister ermächtigt, vorbei an den demokratischen Instanzen ihren Anordnungsspielraum weit in den vorstaatlichen Bereich hinein auszudehnen. Es hat ihnen das Recht zugebilligt, […] in die innere Beziehung des Menschen zu seiner Sprache einzugreifen. Dem Erwachsenen wird die Gültigkeit seines Sprachgefühls aberkannt, und Kindern wird es unmöglich gemacht, ein in sich stimmiges Sprachgefühl aufzubauen. Hier keine Persönlichkeitsrechte tangiert zu sehen, erfordert ein beachtliches Maß an Blindheit. Das vordemokratische Kaiserreich, das 1901 eine behutsame Anpassung der Orthographie vornahm, hat sich vergleichbares nicht unterstanden. Auf paradoxe Weise verschwistert sich in dem Karlsruher Spruch Staatsautoritarismus mit einem postmodernen Laissez-faire-Libertinismus. Das gleiche Gericht, das die Kultusminister bevollmächtigt, dem Volk sprachwidrige Schreibgewohnheiten zu diktieren, findet nichts dabei, wenn ein Bundesland aus der Reformfront ausschert. Denn dadurch werde die schriftliche Kommunikation nicht wesentlich erschwert. Dies ist die höchstrichterliche Verabschiedung der einheitlichen Rechtschreibung und der Freibrief für orthographische Beliebigkeit.
13. 8. 1998
Die Erstklässler, welche am kommenden Montag erstmals staunend ein Klassenzimmer betreten werden, haben's gut. Sie können, sofern nicht längst lesende und schreibende Wunderkinder, bei Null anfangen und müssen sich nicht mühsam mit der Malaise (neu Maläse, ehrlich!) rund um die Rechtschreibe-Änderungen auseinander setzen. […] Bei älteren Schülern gilt: Die Fallen sind gestellt. Nie war die Chance so gross, den Lehrer bei einem Fehler zu ertappen.
1998-08-10
Im Frühjahr kommenden Jahres soll die Lutherbibel in neuer Rechtschreibung erscheinen. […] In die Augen fallen wird den Bibellesern allerdings die neue Schreibung des Wortes „Greuel“, das in der Bibel 123 Mal vorkommt […]. An einigen wenigen Stellen aber wird die Lutherbibel von der neuen Rechtschreibung abweichen, weil nach der neuen Schreibung ein Mißverständnis entstehen könnte oder zumindest das Verständnis erschwert würde. Die Aufforderung in Psalm 37 "Befiehl dem Herrn deine Wege und hoffe auf ihn, er wird's wohlmachen" wird in der alten Schreibung bestehenbleiben. Wohlmachen wäre zwar nach den neuen Regeln getrennt zu schreiben, könnte aber dann im Sinne von „er wird es wahrscheinlich machen“ mißverstanden werden.
8. 8. 1998
Seit 1. August gilt offiziell die neue Rechtschreibung auch im Glarnerland. Doch noch haben viele Institutionen der Öffentlichkeit Mühe mit der Umstellung. Eine Ausnahme machen die Schulen, bei denen die Einführung schon recht weit fortgeschritten ist.
7. 8. 1998
Leserbrief zu zz.: Zur Neuregelung der deutschen Rechtschreibung; eine Stellungnahme der «Neuen Zürcher Zeitung». Neue Zürcher Zeitung, 17. 7. 1998
Obwohl die neuen Sprachregeln seit einer Woche offiziell in Kraft sind, bleibt auf der Zürcher Kantonsverwaltung und auch in den Gemeinden vorläufig alles, wie es war. […] Auch auf der Stadtverwaltung Zürich herrscht keine Rechtschreibehektik. Stadtschreiber Martin Brunner: "Gemse oder Gämse, Stengel oder Stängel - das interessiert uns mässig, solche Wörter brauchen wir ja sowieso nicht." Die Änderungen seien marginal, und wo Kommas zu setzen seien, wisse heutzutage ja ohnehin kaum jemand.
3. 8. 1998
Ich stand zum erstenmal in einem Museum vor einem Stilleben. Und war komplett überfordert. Entweder war das ein stilles Leben, oder es handelte sich um einen Fachausdruck, mit dem ein besonderer Stil der Malerei gekennzeichnet wird. […] Doch die Deutsch-Päpste haben beschlossen, diesem Wort ab sofort ein drittes «L» einzufügen. Womit mein kindliches Gedankenspiel zunichte gemacht wird.
In Schleswig-Holstein werden Landesregierung und Bürgerinitiative sich nicht einig. […] Hat der Antrag der Initiative "Wir gegen die Rechtschreibreform" im September Erfolg, und das ist angesichts der 220.000 Unterschriften beim vorausgegangenen Volksbegehren nicht unwahrscheinlich, würden die 305.700 Schulkinder Schleswig-Holsteins fortan als einzige im gesamten Bundesgebiet nach den alten Regeln unterrichtet. Man werde alles tun, so Simonis, diese "Insellösung" zu vermeiden. […] Simonis drohte deswegen gar, den vermeintlichen Reformstopp durch einen Gegen-Gesetzentwurf zu Fall zu bringen.
2. 8. 1998
Seit gestern ist sie gültig, die neue Rechtschreibung. Exklusiv publiziert SonntagsBlick auf den nächsten Seiten eine Liste der neuen Wörter. […] Um die Umstellung zu erleichtern, haben die Zentralen Sprachdienste der Bundeskanzlei eine 68seitige Broschüre verfasst. Darin findet sich alles Wissenswerte über die neuen Regeln. Bereits sind 50 000 Stück gedruckt worden.
1. 8. 1998
Selten hat ein behördlich verordnetes Änderungsansinnen solchen Wirbel verursacht wie der Eingriff ins Schrifttum. Kaum ein anderes Thema hat so sehr für gefüllte Leserbriefseiten in den Zeitungen gesorgt wie dieses. […] Unter Schülern hat die Stiftung Lesen allerdings gravierende Mängel in der Beherrschung der Schriftsprache ausgemacht: Jeder dritte Schüler hat nach der 8. Klasse Schwierigkeiten mit dem Lesen und Schreiben. […] Dagegen hilft auch keine Rechtschreibreform mit ihrer vermeintlichen Vereinfachung: Wer "Flußschiffahrt" nicht dudengerecht zu Papier zu bringen vermochte, der kriegt "Flussschifffahrt" auch nicht hin.
In Österreich lehnen 64 Prozent der Befragten die heute in Kraft tretende Rechtschreibreform ab. Für 72 Prozent ist das Regelwerk ein Buch mit sieben Siegeln. […] Dies ergab eine Umfrage des Linzer Meinungsforschungsinstitutes Spectra.
Sehen Sie es tut gar nicht weh. […] Ab heute, dem historischen 1. August 1998, gilt in Österreich die reformierte deutsche Rechtschreibung von Amts wegen, auch "Die Presse" konnte es nicht verhindern. […] Politiker, die das neue Regelwerk ja nicht entwickelt, sondern nur abgesegnet haben, müßten vor Neid erblassen. Ihnen war es noch nie beschieden, mit einer so winzigen Reform derartiges Aufsehen zu erregen. […] Rechtschreibung als ein Prozeß der permanenten Revolution, das wär 's. Ist nicht wieder einmal die gemäßigte Kleinschreibung auf der Strecke geblieben? Wie lange noch sollen die Staatsbürger mit der unnützen Unterscheidung zwischen Haupt- und anderen Wörtern belastet werden?
Ab heute gelten die neuen Schreibregeln, und alle machen's anders: Dichter gar nicht, Zeitungen später, Behörden je nachdem. […] Zwölf Jahre lang wurde die Rechtschreibreform diskutiert, am heutigen Stichtag heißt die Devise "Nur nichts überstürzen": Zeitungen und Nachrichtenagenturen wenden die neuen Rechtschreibregeln frühestens im Sommer 1999 an, Verlage und Schriftsteller sträuben sich ganz. Und auch die Länderregierungen sind sich nicht einig: In den Schulen gelten die Regeln bereits, beim amtlichen Schriftverkehr nur in neun Bundesländern.
Die größte Errungenschaft der ab dem heutigen Tage gültigen neuen Schreibregeln ist es, erfolgreich den Begriff "Reform" besetzt zu haben. Ein Etikettenschwindel. Denn bei genauer Betrachtung ist die "Rechtschreibreformierung" vor allem eine Rechtschreibdeformierung. […] Die Konsequenz ist das Chaos: Eltern werden anders schreiben als ihre Kinder, Schleswig-Holsteiner vielleicht anders als Hessen. Zur "orthographical correctness" läßt sich niemand zwingen. Am wenigsten die WELT. Solange es irgendwie möglich ist, schreiben wir weiter nach alten Regeln.