Wie sehen Sie die Chancen, daß nach dem Volksentscheid gegen die Rechtschreibreform in Schleswig-Holstein ein neuer bundesweiter Konsens zur Korrektur der gröbsten Fehler gefunden werden kann? Ute Erdsiek-Rave: Korrekturen innerhalb der Rechtschreibreform, denke ich, wird es geben. In Schleswig-Holstein werden wir diese Entwicklung nicht betreiben können. Hier müssen wir laut Entscheid die älteren Schreibweisen an Schulen verwenden. In den nächten zwei Jahren wird sich entscheiden, ob sich die Reform, wie auch immer, durchgesetzt hat.
Bund für vereinfachte rechtschreibung (BVR)
Aus presse und internet
30. 10. 1998
29. 10. 1998
Erst nach der Pause faucht und spuckt der Hobbypilot und höchstgradig ausgezeichnete Liedermacher zusehends kritischere Töne in das jung bis reif gemischte Publikum: Gegen eine halbherzige Rechtschreibreform, gegen das Vergessen der Nazigreuel, gegen penetrante TV-Werbung oder auch Wehrungerechtigkeit und Steuerflüchtlinge wie Tempo-Gott Michael Schumacher.
28. 10. 1998
Die Rechtschreibreform soll zum 1. Januar 1999 in den Berliner Behörden umgesetzt werden. Das hat der Senat aufgrund einer Vorlage des scheidenden Innensenators Jörg Schönbohm beschlossen. Diese Entscheidung trifft auf heftigen Widerstand der Initiativen gegen die Reform. Sie halten den Beschluß für rechtswidrig. […] Hintergrund des Streits ist ein Urteil des Bundesverfassungsgerichtes vom 14. Juli 1998. Darin heißt es unter Bezug auf die Rechtschreibreform: «Soweit dieser Regelung rechtliche Verbindlichkeit zukommt, ist diese auf den Bereich der Schulen beschränkt. Personen außerhalb dieses Bereichs sind rechtlich nicht gehalten, die neuen Rechtschreibregeln zu beachten und die reformierte Schreibung zu verwenden. Sie sind vielmehr frei, wie bisher zu schreiben.» […] Der «Berliner Verein für deutsche Rechtschreibung und Sprachpflege» und die Bürgerinitiative «Wir sind das Rechtschreibvolk» beziehen dies ausdrücklich auch auf Angestellte im öffentlichen Dienst und Beamte.
Einmal mehr haben die reformgegner die juristerei entdeckt, ohne etwas davon zu verstehen. Dass angestellte und wohl auch beamte so zu schreiben haben, wie der chef es will, ergibt sich schon aus dem privatrecht oder aus der volksweisheit: Wer zahlt, befiehlt.
. . . ein düsteres Kapitel aktueller Justizgeschichte, nämlich die Vorgänge zur Vorabveröffentlichung des Ausgangs der Rechtschreibreform-Verfassungsbeschwerde. Darin wird deutlich, daß die "undichte Stelle" wohl eher in Bonn als in Karlsruhe zu suchen ist.
25. 10. 1998
Darf man Volkes Wille veräppeln? Unsere hanseatischen Nachbarn im Süden tun es, jedenfalls einige von ihnen. In Hamburg hat jetzt die Lehrergewerkschaft GEW eine "Initiative: Gebt dem Volk, was des Volkes ist!" gegründet. […] "Alte Schulbücher, Broschüren etc. brauchen nun nicht mehr den Gang in ein aufwendiges Recycling zu gehen", spotten die Hamburger Gewerkschaftler und schlagen vor, auf jedem Schulhof einen Container in den schleswig-holsteinischen Landesfarben rot-weiß-blau aufzustellen. Auf Jahre hinaus könnte Hamburg so seine alte Rechtschreibung entsorgen und den Finanzhaushalt der nördlichen Nachbarn entlasten.
1998-10-21
Die Initiative gegen die Rechtschreibreform fordert die Landesregierung auf, die Arbeit der Kultusministerkonferenz (KMK) so lange durch ihr Vetorecht zu blockieren, bis das Gremium einlenkt und die Reform auch in den anderen Ländern stoppt.
Mit verlaub: Das ist kindisch!
Die in der alten Schreibung unterrichteten Schüler Schleswig-Holsteins dürfen sich manchmal wundern über eigenartige Groß- und Getrenntschreibungen in ihren Schulbüchern […] Das ist […] ein glänzendes und didaktisch ungemein modernes Training fürs kritische Denkvermögen.
Eben, das ist es ja: Wenn man das denkvermögen schulen würde statt unnötige rechtschreibschwierigkeiten zu pauken, könnte auch herr Illauer sprachliche schwierigkeiten (kritisches Denkvermögen = reitende Artilleriekaserne) besser meistern.
Die Bürger haben wohl erkannt, was die Kultusminister immer noch nicht wahrhaben wollen: Sie sind von den Rechtschreibreformern aufs Glatteis geführt worden.
Ein von unbeugsamen Bürgern bevölkertes Land hört nicht auf, dem Eindringling Widerstand zu leisten. Auch wenn man als Schleswig-Holsteiner mit dieser Asterix-Assoziation kokettiert, muß man eingestehen, wahrscheinlich wäre die Abstimmung über die Rechtschreibreform in jedem Bundesland so ausgefallen.
Ich würde mich freuen, wenn das Beispiel der schleswig-holsteinischen Bevölkerung in anderen Bundesländern Nachahmung fände.
1998-10-20
Was ihn wirklich beunruhige, meinte Robert Picht, sei die Fatalität, mit der die Angloamerikanisierung der Sprache als nicht zu stoppende Lawine dargestellt werde. Doch dem sei nicht so. «Es liegt an uns, wie es weitergeht.» Die Akademie, die auch den Kampf gegen die Rechtschreibreform noch nicht aufgegeben hat, ist erneut als Mahnerin und Warnerin in der Pflicht.
1998-10-19
Es hätte keines Volksentscheids bedurft, um zu erfahren, daß das Volk gegen die Rechtschreibreform ist.
Aber ach, der süße Schlaf ist stärker. Wie sonst ließe sich erklären, daß auf die letztjährige Ankündigung, die Akademie werde einen eigenen Vorschlag zur Rechtschreibreform unterbreiten, jetzt wieder nur eine Absichtserklärung folgte? Daß die Akademie in dieser Angelegenheit nicht gefragt worden war, geschweige denn aus eigenem Antrieb sich zu Wort gemeldet hätte, hatte ihr Präsident Christian Meier im vorigen Jahr freimütig mit den Worten kommentiert, man habe die Sache wohl einfach verschlafen. Jetzt gab sich Meier kämpferisch, […] spottete mit spitzen Worten über Kultusminister und andere Bürokraten. Er schwang sich sogar zu der Behauptung auf, der Streit um die Rechtschreibreform sei nur ein Symptom unter vielen für die allgemeine Geringschätzung der Kultur.
Die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung hat die Öffentlichkeit zu einem Boykott der Rechtschreibreform aufgerufen. Gleichzeitig kündigte sie einen Gegenentwurf zur aktuell geltenden Reform an.
17. 10. 1998
Wie ihre fast fünfhundertjährige Wirkungsgeschichte im einzelnen aussah, beleuchtet eine kleine Aufsatzsammlung, welche aus Anlass der amerikanischen Ausstellung «Blackletter: Type and National Identity» zustande kam.
16. 10. 1998
Eine Volksabstimmung parallel zur Landtagswahl hat die Arbeitsgemeinschaft Christlich Demokratischer Lehrer (ACDL) Hessen vorgeschlagen. […] Aus Sicht der hessischen CDU-Lehrer sei es unerträglich, daß einige Kultusminister quer durch alle Parteien bereit seien, "diesen Unfug mitzumachen". Eine parlamentarisch legitimierte Entscheidung des Bundestages dafür fehle, sei aber zwingend geboten.
Wenn sich eine institution "Arbeitsgemeinschaft Christlich Demokratischer Lehrer" (nach duden: "Arbeitsgemeinschaft christlichdemokratischer Lehrer") schreibt, kann es nichts schaden, dass sie sich einmal mit ortografie befasst.
Eine Volksabstimmung parallel zur Landtagswahl hat die Arbeitsgemeinschaft Christlich Demokratischer Lehrer (ACDL) Hessen vorgeschlagen.
Wer schreibt was wie? Behörden warten auf Weisung von oben, Unternehmen und Verbände auf den Trend. "Tips zur Pressearbeit" wollte "Klasse!", das Schulprojekt der Zeitungsgruppe Main-Post, den Schülern geben. "Das muß ,Tipps' mit zwei p heißen", wurde Leitender Redakteur Peter Krones umgehend von Pädagogen belehrt. Schließlich gelten an den Schulen die neuen Rechtschreibregeln. Also korrigierte man die "Tips" zu "Tipps". Damit wiederum war der Drucker, der die Seiten in die Hand bekam, nicht zufrieden. […] Wenn die deutschen Nachrichtenagenturen die Rechtschreibreform umsetzen — wie sie jetzt bekanntgaben, planen sie dies zum 1. August 1999 —, werden auch die Titel der Zeitungsgruppe Main-Post umstellen.
15. 10. 1998
Mit dem neuen Kompromiß der Landtagsfraktionen zur Rechtschreibreform sind die Initiatoren des Volksentscheides nur teilweise einverstanden. "Wir hoffen aber, daß es nun zu einem sanften Ausstieg aus den experimentellen Schreibweisen kommt und wollen die Entwicklung erst einmal gelassen abwarten", sagte der Sprecher der Initiative, Matthias Dräger.
Welche rechtschreibung will man nun in Schleswig-Holstein? Die alte anscheinend nicht, denn gemäss alter (und neuer) regelung braucht es bei einem eingeschobenen nebensatz 2 kommas: "Wir hoffen, daß es kommt[,] und wollen abwarten."
Sowohl bei den Novellen zum Schul- und Hochschulgesetz als auch bei der Volksabstimmung zur Rechtschreibreform habe die Ministerin […] den Betroffenen die Politik der Landesregierung nicht ausreichend vermitteln können.
14. 10. 1998
Wie das Bildungsministerium gestern in Kiel mitteilte, einigten sich die Fraktionen auf einen zunächst für zwei Jahre gültigen Erlaß zur Umsetzung des Volksentscheids. Künftig soll an den Schulen wieder die vor der Reform gültige Rechtschreibung unterrichtet werden. […] Daher sollen die Lehrer die Schreibweisen der neuen Rechtschreibung in schriftlichen Leistungsnachweisen korrigieren, sie aber nicht als Fehler werten. […] An dem Gespräch beteiligten sich die noch amtierende Bildungs- und Wissenschaftsministerin Gisela Böhrk (SPD), die SPD-Fraktionsvorsitzende Ute Erdsiek-Rave und CDU-Fraktionschef Martin Kayenburg. Für die Grünen nahm der Abgeordnete Detlef Matthiessen und für die FDP ihr Parlamentarischer Geschäftsführer Ekkehard Klug teil.
Zur Rolle ihres scheidenden Kabinettsmitglieds meinte Heide Simonis: "Sie ist eine sehr engagierte Frauenministerin gewesen, die erste in der Bundesrepublik. Sie hat sehr viele Sachen in der Bildungs- und Schulpolitik angefaßt. Sie hat aber auch genausoviel Widerspruch angetroffen, und ihr Job war nicht immer leicht." Zum eigentlichen Konflikt um die Bildungsministerin, dem Volksentscheid gegen die Rechtschreibreform und seinen umstrittenen Folgen, sagte die Ministerpräsidentin nichts.
13. 10. 1998
Das Amt sei eben ein Schleudersitz, sagte Böhrk. "Daß es mich nun ausgerechnet über die Rechtschreibreform erwischt, ist etwas überraschend", erklärte sie und bot damit den Dauerstreit über die per Volksentscheid gestoppte Neuschreibung als Abtrittsgrund an. Über eine Ablösung von Böhrk war in der Staatskanzlei von Simonis aber schon im Sommer nachgedacht worden.
Durch die unverantwortliche Einführung dieser überflüssigen, mißlungenen und fehlerhaften Rechtschreibreform, die ihren "Elchtest" in den Schulen nicht bestanden hat (denn die "Reform" bringt nicht Erleichterung, sondern Verwirrung, nicht Vereinfachung und Reduktion der Fehler, sondern im Gegenteil eine Komplizierung und Erhöhung der Rechtschreibfehler), ging nun die Einheitlichkeit verloren.
12. 10. 1998
Die Landesschülervertretung (LSV) der Gymnasien und Gesamtschulen hat in einem Offenen Brief an Ministerpräsidentin Heide Simonis (SPD) appelliert, Bildungsministerin Gisela Böhrk (SPD) im Amt zu belassen. Die Schüler Union (SU) forderte dagegen ihre sofortige Entlassung. […] Die Landeschülervertretung der Realschulen forderte unterdessen alle Kultusminister auf, für eine einheitliche Rechtschreibung in Deutschland zu sorgen. Was in anderen Bundesländern richtig sei, dürfe hier nicht als Fehler angestrichen werden. Nach einer Übergangsfrist sollte aus dem "Reförmchen" eine einheitliche Reform werden, die diesen Namen auch verdiene.
Zu Recht stellt Kurt Reumann in seiner Glosse "Kuß oder Kuss" (F.A.Z. vom 26. September) fest, daß die Rechtschreibreform mehr Ungereimtheiten und Widersprüche schafft, als sie beseitigt. In der Tat hat sich das Bundesverfassungsgericht geweigert, das zur Kenntnis zu nehmen. […] Sehr betrüblich ist, daß dieser Streit auf dem Rücken der Schüler und Schülerinnen ausgetragen wird. […] Was nützt den jungen Menschen eine Rechtschreibung, die von der Gesellschaft aus guten Gründen mehrheitlich abgelehnt wird?
10. 10. 1998
Kultusministerin Gisela Böhrk (SPD) will nun doch versuchen, den Streit um die Rechtschreibreform durch einen überparteilichen Konsens zu lösen.
Mit der Einführung der neuen Rechtschreibregeln warten die meisten Unternehmen noch ab. Der Grund liegt auf der Hand: Zum einen gibt es eine relativ lange Übergangsfrist bis zum Jahr 2005, in der noch nach den alten Regeln geschrieben werden kann. Zum anderen hat das lange Hin und Her um die Einführung der Rechtschreibreform viele Betriebe verunsichert und sie zu einer abwartenden Haltung gezwungen.
Die Beschwerde eines Berliners gegen die Rechtschreibreform vor dem Europäischen Gerichtshof ist gestern wieder zurückgezogen worden. Rechtsanwalt Matthias Bloch sagte, daß er vom Berliner Reformgegner Gernot Holstein für die Beschwerde kein Mandat erhalten habe.
Alle vier Tornescher Schulen hatten sich am gestern auf dem Bahnhofsvorplatz im Zentrum des Ortes versammelt, um nach dem erfolgreichen Volksentscheid in Schleswig-Holstein gegen die Wiedereinführung der alten Rechtschreibung zu demonstrieren.
9. 10. 1998
Zwar haben die Kultusminister immer wieder einmal behauptet, die Reform erleichtere das Deutschlernen für Ausländer, aber das war schon deshalb unglaubwürdig, weil Ausländer ganz andere Fehler machen als die deutschen Kinder und "Wenigschreiber", an denen sich die Neuregelung erklärtermaßen orientiert.
Die Gegner der Rechtschreibreform wollen nach ihrem Sieg beim Volksentscheid in Schleswig-Holstein die Neuschreibung komplett aus den Schulen im Norden verbannen und das notfalls gerichtlich durchsetzen. Bildungsministerin Gisela Böhrk (SPD) verteidigte dagegen im Landtag ihren geplanten Erlaß, wonach die alte Schreibweise gelehrt und die neue geduldet werden soll. […] Die Reformgegner wollen zudem nur alte Duden zulassen. Schulbücher in Neuschreibung sollen "so bald wie möglich" in Handarbeit korrigiert werden. Die Lehrer könnten dies mit ihren Schülern gemeinsam im Unterricht machen, meinte Initiativensprecher Matthias Dräger. Die Zahl der Änderungen sei begrenzt. Lehrer könnten die Bücher auch mit nach Hause nehmen und die Änderungen dort "an einem Abend" machen.
Der schleswig-holsteinische Landtag hat das Wirrwarr der gegensätzlichen Meinungen über die Rechtschreibreform gestern nicht lichten können. Vielmehr haben sich die Gräben in einer Aktuellen Stunde vertieft. Die Konsequenzen aus dem Volksentscheid gegen die Neuschreibung sind umstrittener denn je.
Ekkehard Klug (FDP): […] Wozu zahlen wir viel Geld an diese Kultusministerkonferenz, wenn sie auf den Volksentscheid nicht reagiert und Schleswig-Holstein im Regen stehen läßt. […] Ministerin Böhrk: Selbstverständlich wird der Volksentscheid in der Kultusminister-Konferenz besprochen. Ich sehe aber nicht, daß andere Länder dem Volksentscheid folgen.
Nachdem sich das nördlichste Bundesland mehrheitlich für die alte Rechtschreibung entschieden hat, streiten sich die Experten um die Konsequenzen für die Praxis. Bildungsministerin Gisela Böhrk will Alt und Neu gelten lassen: Es kann nicht in Kiel ein Fehler sein, was in Hamburg gilt. Die Reformgegner verlangen die totale, sofortige Umstellung.
Während am Donnerstag im Landtag von den Fraktionen von FDP und SSW durchaus versöhnliche Töne angeschlagen wurden, drohte die Initiative "Wir gegen die Rechtschreibreform" erneut mit einer Klage vor dem Verwaltungsgericht. […] Der Sprecher der Initiative, Matthias Dräger, vertrat in Kiel die Ansicht, nicht Schleswig-Holstein sei eine "Rechtschreibinsel", sondern der Rest des deutschsprachigen Raumes.
1998-10-07
Wissenschaftler der Universität Kiel […] behaupteten in einer Zeitungsanzeige, die Rechtschreibreform führe "zu einer babylonischen Schreibverwirrung". Souverän ignorierten sie die Tatsache, daß man Alltagstexte in der neuen Schreibung problemlos verstehen kann, auch ohne die neuen Regeln näher zu kennen, und oft kaum den Unterschied bemerkt. Mit dem Turmbau zu Babylon, wo "keiner mehr des anderen Sprache" verstand (1. Moses 11), hat die Rechtschreibreform nichts zu tun. Das sollten auch ihre Gegner zugeben, anstatt mit übertriebenen, polemischen Vergleichen Panikmache zu betreiben.
Das Land Baden-Württemberg will die neuen Regeln ab 1. Januar 1999 einführen. Der Städtetag hat den Städten im Südwesten empfohlen, die Termine des Landes zu übernehmen, um die Einheitlichkeit der Verwaltungssprache zu wahren. In Städten wie Ulm und Freiburg hat man sich damit noch gar nicht befaßt. Und beim Landkreistag fragt ein Sprecher: "Was soll die ganze Hektik?"
Bürgerinitiativen in Berlin, Brandenburg und Mecklenburg-Vorpommern planen nach Kieler Vorbild Abstimmungen gegen das Reformwerk.
Ohne viel Aufhebens hat der Verfassungsgerichtshof begonnen, auf die neue Rechtschreibung umzustellen. […] Nun, was der VfGH geliefert hat, zeigt genau das, was vielen in einer Übergangsphase passieren wird: Manche Regeln werden beachtet, andere übersehen.
6. 10. 1998
Unter den Schülern herrscht keineswegs Einigkeit über die Rechtschreibreform. […] Hauke Mormann (15), Schüler der zehnten Klasse des Brunsbütteler Gymnasiums, bringt es auf den Punkt: "Gerade uns Schüler betrifft der Streit doch am meisten. Ich finde, dann hätten wir auch irgendwann einmal gefragt werden müssen." Er hält die Entscheidung, die Schleswig-Holstein zu einer "Insel" macht, für falsch. […] Das Ergebnis des Volksentscheids spiegelt keineswegs die Meinung der Schüler wider. Zur Abstimmung aufgerufen waren nur Erwachsene, die die alten Regeln beherrschen und die überwiegend wenig Zugang zu den neuen haben. Die jüngere Generation ist da in ganz anderer Weise betroffen — und auch anderer Meinung.
Als "Chance, endlich auf dem Markt der deutschen Wörterbücher Fuß zu fassen" bezeichnet Christoph Hünermann, Mitglied der Verlagsleitung und Chefredakteur des Bertelsmann Lexikon Verlages, die Rechtschreibreform. […] Möglich sei diese "Einführung der Marktwirtschaft in das Ressort der deutsche Wörterbücher" mit der Rechtschreibreform geworden.
Die baden-württembergische Landesverwaltung führt zum 1. Januar 1999 die neue Rechtschreibung ein. Dies hat die Landesregierung auf ihrer Kabinettssitzung am Montag nachmittag beschlossen.
5. 10. 1998
Eine Woche nach dem Volksentscheid gegen die Rechtschreibreform in Schleswig-Holstein hat FDP-Chef Wolfgang Gerhardt erneut eine Überarbeitung der seit August geltenden Änderungen gefordert. […] Das für Schulen zuständige GEW-Vorstandsmitglied Marianne Demmer meinte, in Schleswig-Holstein könnten die Lehrpläne nicht mehr eingehalten werden, da die Schüler nach dem Volksentscheid die alten Regeln lernen müßten, die neuen nach den Plänen des Kultusministeriums aber weiterhin akzeptiert werden sollten. «Die doppelte Rechtschreibung wird viel Zeit kosten und den Unterricht verzögern.»
In "Vier-Augen-Gesprächen" diskutiert der Rektor der Grundschule Trittau bei Hamburg das vorläufige Aus für die neue Rechtschreibung in Schleswig-Holstein. Das Ergebnis der Debatten bekümmert den Pädagogen: "Die Lehrer sind frustriert und die Schüler voller Zweifel."
Der Entwurf für einen Erlaß zur Umsetzung des Volksentscheides gegen die Rechtschreibreform nimmt Gestalt an. Die Gegner der Neuschreibung verlangen je nach Alter der Schüler gestaffelte Übergangsfristen für die Rückkehr zur bisherigen Orthographie. […] Niemand wolle die Verwendung der neuen Schreibweise den Schülern als Fehler ankreiden. Ab sofort aber sollte die Verwendung der in Schleswig-Holstein nicht mehr zulässigen "experimentellen Schreibweise" zumindest für die älteren Schüler als "nicht üblich" gekennzeichnet werden. Die Absicht von Kultusministerin Gisela Böhrk (SPD), nur noch die alte Schreibweise zu unterrichten, aber trotz des Volksentscheides die alten und die neuen Schreibweisen unbefristet nebeneinander als korrekt gelten zu lassen, lehnt der Elternverein entschieden ab.
"Das Wort, das Kohl nicht gesprochen hat, könnte Schröder sprechen: Schluß mit dem Unsinn", sagte der Erlanger Sprachwissenschaftler Prof. Theodor Ickler in einem Gespräch mit der Deutschen Presse-Agentur. […] Ickler wandte sich gleichzeitig gegen die Absicht von Schleswig-Holsteins Bildungsministerin Gisela Böhrk (SPD), die Schüler sowohl nach den alten als auch nach den neuen Regeln schreiben zu lassen: "Das widerspricht dem Sinn der Rechtschreibung."
Schleswig-Holstein ist seit einer Woche eine regelrechte Sprachinsel im deutschsprachigen Raum. Ob von hier der beharrliche Protest noch einmal auf die anderen Bundesländer sowie auf Österreich und die Schweiz überspringen kann oder ob vielmehr die Einflüsse der "reformierten" Bundesländer auf die Sprachinsel aushöhlt, sorgt für große Verwirrung.
"Die Kultusminister haben Deutschland in einen Würgegriff genommen und und wollen sich unserer Sprache bemächtigen. Bitte helft uns", appellierten die Initiatoren des Volksentscheids gegen die Reform in Schleswig-Holstein heute an das "europäische Ausland". […] Damit hätten die Kultusminister in der Bundesrepublik "spätstalinistische Zustände" eingeführt. […] Wenn in der Tagesschau "sieben- bis neunjährige Dreikäsehochs wie Kultusminister über die Vorzüge der Rechtschreibreform referieren" dürften, könne "einem schon angst und bange werden", in "was für einem Staat wir überhaupt leben".
SZ: Sie gehören zu den Gegnern. der Rechtschreibreform. Nun kann man mit vielen Einwänden konform gehen, aber warum kamen sie so spät, als das Kind schon im Brunnen lag? Walser: Der Lehrer Friedrich Denk hat uns Autoren mobilisiert. Dann habe ich mir das angeschaut. Wie jede verordnete Rechtschreibung ist auch diese hauptsächlich eine Verordnung. Sie bringt Verbesserungen, auch viele Verschlechterungen – das kann ich prozentual gar nicht abwägen. Aber auf jeden Fall lohnt es sich nicht, deswegen so einen Aufwand zu machen. Deswegen habe ich den Appell der Reformgegner unterschrieben. … Das einzig Gute könnte bei der ganzen Diskussion jetzt sein, wenn Lehrer und Schüler sehen, daß Rechtschreibung kein Naturgesetz an sich ist. Zu meiner Schulzeit war es ja fast ein Charakterfehler, wenn man etwas falsch geschrieben hat. Ich hoffe, daß dieser autoritäre Schauder verfliegt. SZ: Wenn der Suhrkamp Verlag irgendwann sein Satz-Programm auf die neue Rechtsschreibung umstellen würde, was wünschten Sie sich dann für Ihre Bücher? Walser: Ich möchte, daß meine Sachen so geschrieben werden, wie ich sie geschrieben habe, und niemals umorganisiert und egalisiert nach irgendeinem späteren Duden.
Wes-terland trennt sich wieder We-sterland: Per Volksentscheid haben die Schleswig-Holsteiner das Recht auf die alte Rechtschreibung erstritten.
»Schluß mit dem Unsinn«- dieses Machtwort zur Rechtschreibreform verlangt der Erlanger Sprachwissenschaftler Theodor Ickler von Gerhard Schröder als Bundeskanzler. […] Fraglich bleibt es allerdings, jetzt nach der Politik zu rufen und ein Machtwort zu fordern. […] Eine Rechtschreibreform hat einen so massiven Einfluß auf die Kultur eines Landes, daß sie nicht von Vier-Jahres-Mandatsträgern entschieden werden kann.
4. 10. 1998
FDP-Chef Wolfgang Gerhardt hat eine Überarbeitung der Rechtschreibreform verlangt. Die seit August geltenden Änderungen müßten auf ein vertretbares Maß reduziert werden, appellierte Gerhardt in der "Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung" an die Kultusminister der Länder. […] Bei einer Umfrage des Instituts Polis sprachen sich 82 Prozent der Befragten gegen die Abkoppelung Schleswig-Holsteins aus.
3. 10. 1998
Vier "Fraktionen" sind in der gegenwärtigen Ablehnungsfront vorhanden: 1. Grundsätzlich keine Veränderung – das Kulturgut "Sprache" bewahren. 2. Die gegenwärtige Reform ist Pfuscharbeit – mehr und sinnvollere Veränderungen sind notwendig. 3. Die Methode der Durchsetzung ist anti-demokratisch (Verwaltungsakt). 4. Das Abstimmungsverfahren wurde nicht begriffen. […] Die Ablehnung sollte den Dialog mit der Bevölkerung darüber eröffnen, ob wir eine "wirkliche Reform" der Rechtschreibung vornehmen wollen oder nicht. […] Die Großschreibung (bis auf den Satzanfang und "Gott", meinetwegen) muß abgeschafft werden. Ein Kurzvokal wird durch die Konsonantenverdopplung gekennzeichnet. Ein langer Vokal durch nur einen Konsonanten, wobei das "ß" (scharfer S-Laut) erhalten bleibt (flisen = fliesen, fließen = flißen). […] Die Chance der Ablehnung der "Rechtschreibreform" besteht darin, die Ziele einer sinnvollen Reform zu diskutieren und gegen die repressiven Kulturbewahrer der Nicht-Veränderung zu mobilisieren.
Die Forderung nach einer bundesweiten Korrektur oder einem generellen Stopp der Rechtschreibreform wird jetzt auch vom Landeselternbeirat der Grund-, Haupt- und Sonderschulen und der Schülervertretung der beruflichen Schulen erhoben.
2. 10. 1998
Nach dem Erfolg ihres Volksentscheids werfen die Reformgegner Bildungsministerin Gisela Böhrk (SPD) vor, das Gesetz, das die Rückkehr zu den alten Rechtschreibregeln an den Schulen vorschreibt, zu unterlaufen. 25 Initiativen von Reformgegnern aus dem gesamten Bundesgebiet, die CDU sowie die FDP-Jugendorganisation Junge Liberale forderten Böhrk zum Rücktritt auf. […] Der Kieler Staats- und Rechtsphilosophie-Professor Wolfgang Deppert kritisierte, daß Böhrk nach dem Volksentscheid nicht bei der Kultusministerkonferenz auf einen Stopp der Reform gedrängt habe. Nach Depperts Rechtsauffassung muß die Reform ausgesetzt werden, weil Schleswig-Holstein aus der einheitlichen Linie ausgeschert sei.
Nach der Abstimmung in Schleswig-Holstein: An welchen Orthographie-Regeln orientieren sich große und kleine deutsche Verlage? — Eine Umfrage. […] "Nur bei Kinderbüchern wenden wir die neuen Regeln an, ansonsten drucken wir nach den alten Regeln" - das ist die Auskunft, die wir von Ines Foossen erhalten, Assistentin der Geschäftsleitung im Verlag S. Fischer in Frankfurt am Main. […] Der Verlag Philipp Reclam jun. Stuttgart und Reclam Leipzig hält es ein bißchen anders. "Bei Neuauflagen greifen die neuen Regeln. Klassiker-Ausgaben werden, wie bislang auch, behutsam modernisiert", erläutert Claudia Bachhausen von der Pressestelle des Reclam-Verlags. […] Ernst-Klett-Schulbuchverlag in Stuttgart: "Wir drucken seit drei Jahren nach den neuen Regeln", erklärt Klaus Holoch von der Presseabteilung. Für den Schulbuch-Verlag gebe es ohnehin kein Zurück zu den alten Regeln, fügt er hinzu.
Von Schadensbegrenzung spricht man nun in Kiel, nachdem das Kind in den Brunnen gefallen ist. In einem Volksentscheid hat sich nämlich in Schleswig-Holstein eine deutliche Mehrheit dafür ausgesprochen, die "alte" Rechtschreibung beizubehalten, obwohl bereits seit zwei Jahren die neue gelehrt worden ist. Das Durcheinander ist jedenfalls komplett; Schilda ist nichts dagegen.
1. 10. 1998
Als Schwachstellen im Kabinett gelten die farblose Frauen- und Wohnungsbauministerin Angelika Birk und — nicht erst seit ihrer unglücklichen Handhabung des Themas Rechtschreibreform — die Bildungsministerin Gisela Böhrk.
Dieser ministerielle Erlaß, die alte Schreibweise zu lehren, die neue aber nicht zu bestrafen, hat den eifernden Sprachkonservativen Dräger sogleich auf die Palme gebracht. Böhrk trickse die BürgerInnen erneut aus und müsse daher sofort zurücktreten. […] In einigen Jahren schreiben so viele Menschen neu, daß den schleswig-holsteinischen Reformgegnern ihre eigene Plebiszitbegründung zum Nachteil wird.
Das kann nur zu einem Durcheinander führen, denn über kurz oder lang wird das Lehrmaterial in alter Orthographie knapp. […] Selbst wenn es separate Schulbücher gäbe, wem nützten sie? Sicher nicht der Familie mit schulpflichtigen Kindern, die von Kiel nach Berlin oder bloß von Lübeck nach Schwerin zieht. Das Votum gegen die Reform ist ein respektabler Ausdruck eines Unwillens, mehr kann es aber nicht sein. Auf seiner Durchsetzung zu beharren ist nicht sinnvoll.
Gegner der Rechtschreibreform werfen der SPD-Politikerin vor, sie versuche mit Tricks und Manövern den Erfolg des Volksentscheids vom letzten Sonntag ins Gegenteil umzukehren. Gestern verwahrte sich die Ministerin entschieden gegen diese Vorhaltungen. Nach pausenlosen Beratungen mit ihren Experten erklärte Gisela Böhrk, die von 1969 bis zum Wechsel in die Politik im Jahre 1975 als Lehrerin tätig war: "In den Schulen des Landes werden künftig ausschließlich die alten Rechtschreibregeln gelehrt. Aus der Verwendung von Schreibweisen entsprechend der Rechtschreibreform dürfen den Schülerinnen und Schülern aber keine Nachteile entstehen."
Ende september / anfang oktober 1998
Es gibt keinen Sieger. Verloren haben beim Volksentscheid um die Rechtschreibreform vor allem die Schüler in Schleswig-Holstein. […] Was bleibt als Ergebnis? Daß die Schulkinder im Norden nun anders schreiben lernen sollen als im Süden, Westen oder Osten. Das ist auch für die erbittertsten Gegner der Rechtschreibreform am Ende ein mageres Resultat. Der Protest gegen die neuen Schreibregeln, die seit mehr als zehn Jahren vorbereitet worden waren, kam ohnehin verspätet. […] Auch die Kultusminister haben sich keineswegs mit Ruhm bekleckert. Sie haben sich im Recht gefühlt und den plötzlich anschwellenden Widerstand zu lange ignoriert.
Die Bildungsministerin des Landes, Gisela Böhrk (SPD), und Matthias Dräger, Sprecher der Initiative "Wir gegen die Rechtschreibreform", standen den Lübecker Nachrichten zu der Entscheidung Rede und Antwort. […] Gisela Böhrk: Die Schleswig-Holsteiner haben sich für die Sprachinsel entschieden. Ich bedauere dies Wahlergebnis. Es ist ein Ergebnis auf Kosten der Schülerinnen und Schüler. Jetzt müssen wir versuchen, den Schaden für die Schulen so gering wie möglich zu halten. Matthias Dräger: Die Rechtschreibung in den Schulen schließt sich wieder an die Rechtschreibung in der Gesellschaft an; damit bleibt die Einheitlichkeit der Rechtschreibung gewahrt. […] Böhrk: Ich bin fest davon überzeugt, daß es eine Verläßlichkeit von Beschlüssen und Vereinbarungen geben muß, um tragfähig Politik machen zu können. Ein partei-, länder- und staatenübergreifendes Verfahren mit einem klaren Votum des Bundesverfassungsgerichts kann man nicht mal eben kippen. […] Dräger: Die Rechtschreibreform ist die faule Frucht einer unheilvollen Allianz aus dilettantischen Reformern, geschäftstüchtigen Wörter- und Schulbuchverlegern und eitlen Kulturministern.