Die Lutherbibel ist in der neuen deutschen Rechtschreibung erschienen. […] Insgesamt 123-mal musste das Wort "Greuel" umgeschrieben werden: Bannungen, Geisterbeschwörungen und Zeichendeutereien wie etwa im fünften Buch Mose seien dem Volk Israel von nun an eben ein "Gräuel". Die meisten Änderungen betreffen aber den Wechsel von "ß" zu "ss" nach kurzem Vokal.
Bund für vereinfachte rechtschreibung (BVR)
nachgeführt
Aus presse und internet
30. 6. 1999
Schleswig-Holsteins Schüler stehen vor einer weiteren Klippe in Sachen Rechtschreibung: Jetzt ist auch die als Schulbuch verwendete Lutherbibel in neuer Schreibweise erschienen. Nach Auskunft des Bildungsministeriums in Kiel dürfen die Lehrkräfte die neue Lutherbibel verwenden.
Am 1. August wird manches anders: Der "Kölner Stadt-Anzeiger" stellt — wie auch die großen Nachrichtenagenturen — auf die neuen Rechtschreibregeln um. Doch wie halten es andere Institutionen? Eine Umfrage ergab vor allem eines: Die Kölner verabschieden sich — obwohl in allen nordrhein-westfälischen Schule schon seit 1. August 1998 anderes gelehrt wird — nur langsam vom guten, alten "ß".
Die neue Rechtschreibung scheint sich allmählich durchzusetzen, doch ausgestanden ist der Reformstreit deshalb noch nicht. Wir haben einen profilierten Reformgegner — den Linguistik-Professor Theodor Ickler von der Universität Erlangen-Nürnberg — und einen überzeugten Befürworter der Umstellung — Dr. Thilo Castner, Studiendirektor an der Städtischen Wirtschaftsschule (i. R.), nochmals um ihre Argumente pro und kontra gebeten.
In den Amtsstuben gewöhnen sich die Mitarbeiter gerade an die neuen Rechtschreibregeln. Allerdings noch nicht überall in vollem Umfang, sondern im Schritttempo. […] Landrat Gert Schultz (CDU) verkündete zwar auf einem Kreisausschuss, dass die neuen Regeln in seiner Verwaltung keine Chance hätten, solange er Landrat sei, doch musste er sich offenbar eines Bessren belehren lassen.
Ja, auch las-ten, denn unser aller Eselsbrücke: "Trenne nie st, denn es tut den beiden weh", hat sich mit der neuen Regel erübrigt.
Der Literat Alois Brandstetter hat erhebliche Probleme mit der Reform. In einem feinsinnig-amüsanten Brief an einen der Ober-Sprachregler erläutert er sie. […] In meinen Augen, lieber Franz Viktor Spechtler, ist die Rechtschreibreform unnötiger als ein Kropf. Davon bin ich überzeugt, sowahr ich Brandstetter und nicht Brandstätter heiße.
29. 6. 1999
Was ist aus den Schulbüchern mit der alten Schreibweise geworden? Wurden sie alle weggeschmissen? "Natürlich nicht", antwortet Schulrat Klaus Werner vom Staatlichen Schulamt und betont, daß dieses Thema für die Verwaltung eigentlich schon längst "gegessen" sei.
Mit der Rechtschreibreform ist er zwiefach verbunden. Einmal sitzt er in der Kommission, die das Unternehmen begleiten und bis 2003 ein Gutachten darüber erarbeiten soll, was vom Sprachvolk akzeptiert und was verweigert wird. Sodann wird gerade die GfdS vielfach mit Fragen und Klagen zu diesem Thema eingedeckt, weil die Leute sich mit gewissen Dingen partout nicht abfinden, mögen sie linguistisch-formal noch so gut zu begründen sein.
Wo immer eine Institution zur Anwendung der neuen Regeln übergeht, tut sie dies mit willkürlichen Änderungen dieser Regeln. […] Abwegig ist der verbreitete Eindruck, daß es durch den Übergang der Nachrichtenagenturen zu einem "Durchbruch" der neuen Rechtschreibung in den Medien kommen werde. Er wird allenfalls die verwirrende ß-Regel betreffen. In fast allen anderen neuen Regelungen führen die Agenturen eigene Ausnahmen und Sonderregelungen ein, die so in keinem der jetzt schon erschienenen 16 Wörterbücher zu finden sind.
Bis auf ganz geringe Ausnahmen sind alle Schulbücher bereits aktualisiert. Nach den Schulbuchverlagen kamen vor allem die Kinder- und Schulbuchverlage unter Druck. […] Mit Geltung der neuen Rechtsschreibregeln verlangte der Markt nur noch Kinderbücher, die nach der neuen Rechtschreibregel abgefaßt sind. […] Große Publikumsverlage, die sich an ein Erwachsenenpublikum wenden, lassen sich mit der Umstellung Zeit und verlegen auch neue Werke "wie es unsere Autoren wollen".
28. 6. 1999
Wenn der Zeitungsverkäufer Zeitungen verkauft und der Eisverkäufer Eis, was verkauft dann ein Spitzenverkäufer? […] Die deutsche Sprache war schon kompliziert genug; da hätte es nicht auch noch der Rechtschreibreform bedurft.
Zugegeben, es fällt mir schwer, mich mit den neuen Schreibweisen überhaupt auseinanderzusetzen. Mühsam habe ich sie in 46 Jahren "gefressen".
26. 6. 1999
Der Erfolg der Reformgegner im Norden hat Schleswig-Holsteins Schulen bundesweit isoliert und die Rest-Verwaltung brütet über Auswege aus der Orthographie-Falle. Noch im Juli will das Kabinett entscheiden. […] Ausgebildet werden künftige Lehrer nach den neuen Regeln. Steigen sie in den Schuldienst ein, müssen sie gemäß der "Orthographie alt" unterrichten.
Die neue kommasetzung ist immerhin (in der «alt» schreibenden zeitung) auf dem vormarsch: «Der Erfolg hat isoliert[,] und die Rest-Verwaltung brütet.»
Ob man Schiffahrt mit zwei oder drei "f" schreibt, ist Hans-Dietrich Genscher völlig egal. Viel wichtiger für ihn ist, daß mit der Schiff(f)ahrt Arbeitsplätze geschaffen werden, so der ehemalige deutsche Außenminister am Mittwoch im Nieskyer Bürgerhaus beim 6. Wirtschaftsgespräch.
Teil 3 unserer Serie: Die neue Rechtschreibung stieß auf Widerstand und weckte Emotionen. […] Die ersten Reaktionen auf die neuen Rechtschreibregeln, die vor drei Jahren in Wien beschlossen und unterzeichnet wurden, fielen gemäßigt bis wohlwollend aus. Das kam vor allem daher, dass noch kaum jemand diese neuen Regeln kannte – jedenfalls nicht bis ins Detail, in dem ja erwiesenermaßen der Teufel steckt.
25. 6. 1999
Aber bei einer Podiumsdiskussion […] über die Rechtschreibreform am 18. März 1997 […] meinte der bayerische SPD-Landtagsabgeordnete Wolfgang Gartzke: "Germanisten werden das Problem nicht lösen. Während die noch diskutieren, wird die Firma Microsoft mit einem Rechtschreibprogramm den Streit entscheiden." […] Wer mit E-mails arbeitet, sieht, wie die deutsche Rechtschreibung internationalisierend verhunzt und unsere Sprache anglisiert wird, ohne daß der Staat eingreift, der sich doch als Wächter der Rechtschreibung aufspielt.
Hans-Dietrich Genscher, der in seinen langen Jahren als deutscher Außenminister nahezu jeden Winkel des Erdballs besuchte, war das erste Mal in unserer Region. […] Aber auch er versteht sich im Austeilen von Seitenhieben. Er frage sich, ob es angesichts überfüllter Hörsäle und maroder Schulgebäude nichts wichtigeres gäbe, als die Rechtschreibung zu verändern.
In anbetracht der schreibung «nichts wichtigeres» könnte man sagen: die veränderung der rechtschreibung ist nicht wichtig, aber normal.
So ist's recht! Wenn es eine Grundform mit "a" gibt, wird ein Wort mit "ä" geschrieben. Logisch. Folglich: […] SCHNÄUZEN - von Schnauze. Äh, also … putzt sich jetzt hier ein geklontes, mutiertes Tier die Nase, oder besitzt der Mensch jetzt eine Schnauze? Ja, klar: Man sagt ja auch "Halt die Schnauze!" Also: logisch! Allerdings … schreibt "schüler" jetzt auch Sätzer - von Satz? (Anm. der Red.: nein, nein, nein: bei der taz hieß der Satzmann immer "Säzzer").
23. 6. 1999
Eigentlich müßte ich sie gut finden, sie ist modern und in vielerlei Hinsicht gar nicht so schlecht. Trotzdem: Ich will sie nicht, wollte sie nie haben! […] Früher war alles ganz einfach — jetzt muß ich ständig nachfragen, damit ich nichts falsch mache.
Güstrows Hauptamtsleiter Gerhard Harnisch sieht der Umstellung auf die neuen Schreibweisen gelassen entgegen. […] Und im übrigen seien es die Mitarbeiter des Rathauses gewohnt, daß immer mal neue Anforderungen auf sie zukämen, betont der Hauptamtsleiter.
Es geht um mehr als nur ein paar neue Schreibweisen. Der Ärger richtet sich auch, und zum nicht geringen Teil, gegen die Arroganz der Macht, die zumindest im Prozeß der Durchsetzung zum Ausdruck kommt: in der Unbelehrbarkeit, der Besserwisserei, die etwas Erstaunliches hat.
Die Rechtschreibreform wurde an dieser Stelle und auch später jedoch in keiner Weise angesprochen, wahrscheinlich, weil sie in den Medien zur Zeit keine Rolle spielt.
Nach der neuen Rechtschreibung sollen die Wörter so geschrieben werden, wie sie nach heutigem Sprachgebrauch zusammengehören, und es ist nicht mehr entscheidend, wie sie früher einmal zusammengehörten.
Und Peter J. Hoffmanns Umsetzung der deutschen Rechtschreibreform war schlicht perfekt verdreht.
22. 6. 1999
Teil 2 unserer Serie: Rechtschreibreformer peilten Vereinfachung und Vereinheitlichung an. […] Eine grundsätzliche Frage am Anfang: Könnten die Deutschen (und natürlich auch die Österreicher und Schweizer) nicht einfach so weiterschreiben wie bisher? […] Selbstverständlich könnten wir das tun, ähnlich wie die Franzosen, Italiener oder Briten, die über eine Rechtschreibreform nicht einmal ernsthaft nachdenken.
Fast 60 000 Berliner haben bisher im Rahmen eines Volksbegehrens gegen die geplante Rechtschreibreform gestimmt. Für den Erfolg der Initiative sind jedoch rund 240 000 Unterschriften erforderlich.
21. 6. 1999
Für das Volksbegehren "Schluß mit der Rechtschreibreform" sind bisher 58 576 Unterschriften geleistet worden.
Am Samstag war die Redaktion der NNP in Klausur gegangen, um in einem Schnellkursus die wichtigsten Grundregeln der neuen Rechtschreibung zu verinnerlichen - ein recht frustrierendes Unterfangen, wie sich herausstellen sollte. Ein übers andere Mal mußte sich die gute Dozentin entschuldigen, daß sie die Reform ja nicht erfunden habe.
So gibt es Seminare zur Rechtschreibreform und zur Informationsbeschaffung per Internet.
Ab 1. August ist es so weit: Die deutschsprachigen Zeitungen — und damit auch DER STANDARD steigen schweren Herzens um auf die Neue Deutsche Rechtschreibung.
20. 6. 1999
Am meisten Widerspruch gegen die geplante Rechtschreibreform gab in dieser Zeit mit 4357 Stimmen in Tempelhof.
19. 6. 1999
Im Zoo schaut das Känguruh auf einen Sprung beim Panther vorbei und wird bös angefaucht. […] Der Panther ist nämlich sauer. Er hat erfahren, daß ihm die Menschen das h gestohlen haben. "Ich soll jetzt Panter heißen. P-a-n-t-e-r! Ein furchtbarer Imageverlust!"
18. 6. 1999
Alle diese Texte liefern die Agenturen also bald nach reformierter Art, und weder Tageszeitungen noch Illustrierte oder Magazine werden sich dem Trend entziehen können – nicht einmal der Hamburger Spiegel, der den Duden-Regeln von 1901 in der heißen Diskussionsphase noch ewige Treue geschworen hatte.
Die Bremer Initiative "WIR gegen die Rechtschreibreform" hat erneut 2.500 weitere Unterschriften gegen die Rechtschreibreform gesammelt.
17. 6. 1999
Zu Beginn einer Serie über die Umsetzung der neuen Regeln nehmen die FN die städtische Volksbücherei in der Fronmüllerstraße unter die Lupe. […] "Die erwachsenen Leser achten nur auf den Titel. Die Rechtschreibregeln sind ihnen völlig egal", weiß Ulrike Herzog, die sich allerdings oft Kritik von jungen Müttern anhören muß. Denn die Exemplare für sogenannte "Erstleser", also Jungen und Mädchen, die gerade in der Schule die neuen "Gesetze" eingetrichtert bekommen, sind größtenteils veraltet. Und die Gefahr ist groß, daß sich Schreibweisen einprägen, die in ein paar Jahren als falsch gelten.
16. 6. 1999
Ebenso interessant für die Klasse war das Thema Rechtschreibreform. Es wurde ihr erklärt, daß ab dem 1. August 1999 diese auch in der Zeitung offiziell eingeführt wird.
Der Countdown läuft. Schon in zwei Monaten werden Sie "Neuschreib" auf ihrem Frühstückstisch liegen sehen. […] In den kommenden drei Monaten werden Bremer Lehrerinnen und Lehrer Sie hier an dieser Stelle jeden Mittwoch ein kleines Stück in die neue Rechtschreibung einführen.
15. 6. 1999
"Nachvollziehbar" findet der Kulturpolitiker der rotgrünen Regierung, daß die deutsche Wochenzeitung "Die Zeit" soeben die neuen Rechtschreibregeln übernimmt, dabei aber ihre eigene Variante wählt. Ob ihm das nicht Bauchschmerzen bereite, wenn sich jeder seine eigene Rechtschreibung zurechtlegt? "Eigentlich nicht", ruft Naumann im Gespräch mit der "Presse" indirekt zum bürgerlichen Widerstand auf. Wie weit könne diese Art von bürgerlichem Widerstand gehen? "Der Widerstand wird nicht zu Mißverständnissen führen, sondern einfach zu unterschiedlichen Schreibweisen. Allerdings wird das den Lehrern das Leben schwer machen, und den Schülern auch." Naumann sieht in der Rechtschreibreform eher eine zivilisatorische Fehlentwicklung.
Durch Schulen, Verlage, Druckereien, literarische Zirkel und Goethe-Institute geht ein Aufatmen. Mit Einführung der Rechtschreibreform darf man Schifffahrt mit drei "f" schreiben!
14. 6. 1999
Ab 1. August werden die deutschsprachigen Nachrichtenagenturen ihren Kunden die Texte so liefern, wie sie nach den neuen Regeln der Rechtschreibreform zu formulieren sind. Sie werden allerdings die Reform nicht vollumfänglich umsetzen. An einem kürzlich durchgeführten Seminar in Darmstadt wurde die Arbeitsweise der Agenturen kritisiert und der redigierenden Gilde vorgeworfen, sie arbeite zu wenig sorgfältig.
Das rot-grüne Kabinett steht damit vor einem Dilemma. Sind die Kieler bundestreu, wird in den Schulen anders geschrieben als in den Amtsstuben - übrigens auch in den Schulämtern. Und die Schülerinnen und Schüler würden sich zu Recht fragen, warum sie als einzige in Deutschland die alten Regeln pauken und sie verbindlich anwenden müssen. Zeigt das Kabinett aber Herz für die Pennäler, dürften einige Staatsdiener rotieren.
Der Dauerstreit um die neuen Rechtschreibregeln nimmt mitunter skurrile Züge an: Eine Gruppe österreichischer Schriftsteller propagiert jetzt die generelle Kleinschreibung — und wendet diese auch gleich an.
13. 6. 1999
Exakt 46 647 Menschen haben in Berlin bisher im Rahmen des Volksbegehrens gegen die Rechtschreibreform einen Unterschriftsbogen ausgefüllt.
12. 6. 1999
"Es kann nicht darum gehen, eine eigene private Orthographie zu gründen", schreibt die Wochenzeitung "Die Zeit" - und schildert auf fünf vollen Seiten, weshalb man leider in diesen, jenen und noch einigen anderen Punkten von den neuen Rechtschreibregeln abweichen müsse. […] Doch das Tohuwabohu hat auch sein Gutes: Die durchaus nicht in allen Punkten geglückte Rechtschreibreform wird auf diese Weise von vielen Seiten verbessert. Bis zum Jahr 2005, wenn die Neuerung endgültig Verbindlichkeit erhält, wird es zur Reform der Reform kommen müssen. Das letzte Wort ist noch längst nicht gefallen.
11. 6. 1999
Mit einer eigenen Version der Rechtschreibreform beginnt die Hamburger Wochenzeitung Die Zeit in ihrer jüngsten Ausgabe.
10. 6. 1999
Ob sie einem nun mehr oder weniger oder gar nicht gefällt, sie wird bald eine Selbstverständlichkeit sein. […] Ab 2005 wird sie für alle Schulen des deutschen Sprachraums die einzige verbindliche Rechtschreibung sein - ausgenommen die Schulen in Schleswig-Holstein und etwaiger weiterer Bundesländer, die auf Grund eines Volksentscheids aus der Reform ausscheren und Deutschland zurück in die orthografische Kleinstaaterei des 19. Jahrhunderts zwingen. […] Die ZEIT folgt der Neuregelung jedoch nicht pauschal, sondern geht in mehrerlei Hinsicht einen eigenen Weg zwischen Alt und Neu.
In den nächsten 100 Jahren versucht bestimmt niemand mehr eine Rechtschreibreform. Auch die jetzige hätte nicht stattgefunden, hätte jemand geahnt, welche plötzlichen Leidenschaften ein Thema entfacht, das sonst als eines der langweiligsten der Welt gilt. […] So viel Aufregung, und ein so schütteres und nur teilweise geglücktes Ergebnis? Nein, das wird niemand wiederholen wollen.
9. 6. 1999
Auf jeden Fall ist Einsicht in den Marktcharakter der Öffentlichkeit zu wünschen. Der Markt hat Platz für Fakten und Ideen, die er warenförmig sortiert und wertet, ausstellt und ausscheidet; nach ebenso rationalen wie irrationalen Prinzipien. Dieser Markt ist einmal Bühne für die hochdramatische Auseinandersetzung zwischen Pepsi und Coca, ein andermal für die bewaffnete Moralität der Weltgemeinschaft wider den scheußlichen Diktator im Irak oder ethnische Säuberungen in Serbien, zum dritten für den Streit um die Rechtschreibreform oder die Fortsetzung einer lebendigen (und subventionierten) Theaterkultur in Deutschland.
Der Stellenwert der deutschen Sprache ist umso ungewisser, als von einer einheitlichen Sprachpolitik keine Rede sein kann. […] Unterdessen haben sich hierzulande die Kultusminister und Philologen in der Diskussion um die Rechtschreibreform aufgerieben. Statt die Unerläßlichkeit mutter- wie fremdsprachlicher Kompetenz in den Blick zu rücken, haben sie sich ganz nutzlos darüber gestritten, ob es nun richtig sei, wenn man ,Schiffahrt' mit drei f schreibt.
Bei der Einführung der innerörtlichen Geschwindigkeitsbegrenzung […] wurde gejammert — für viele ging die Welt anscheinend unter. Bei der Durchsetzung der Anschnallpflicht für Autofahrer — es schien das Ende der persönlichen Freiheit angebrochen zu sein. Bei der Einführung der Postleitzahlen — andere Länder hatten sie längst. Aber da gab es ja noch die Rechtschreibreform, welch ein Gejammer. Da haben doch Experten der Bundesrepublik Deutschland, der DDR, der Schweiz sowie Liechtensteins und Österreichs mehr als zwanzig Jahre lang an diesem Projekt gearbeitet. Und als die Reform dann in die Tat umgesetzt werden sollte, wurde in diesem unserem Lande wieder gejammert.
Scheitert die Unterschriftensammlung zuvor, dann erweist sich das Instrument "Volksbegehren" als bewußte Fehlkonstruktion der Parteien, um Volkswillen zu verhindern. […] Wenn der Durchbruch nicht gelingt, kann man nur hoffen, daß die WELT ab 1. August einen Weg findet, die Agenturmeldungen in die gewohnte Schreibung zu konvertieren.
Wenn unsere Volksvertreter unser Anliegen nicht ernst nehmen, so müssen sie sich nicht wundern, wenn die Bürger eines Tages bei der Tierschutzpartei oder bei den Bibeltreuen Christen ihr Kreuz auf dem Wahlzettel machen. […] Es ist eine Blamage für die Regierung, die ein Dummdeutsch in die Amtssprache übernimmt, und die ihre Diener zwingt, dieses anzuwenden.
Auch in gescheitdeutsch setzt man zwischen gleichgerichteten nebensätzen kein komma: «… die übernimmt und die zwingt».
8. 6. 1999
Noch bis zum 9. Juli können die Berliner sich beim Volksbegehren gegen die Rechtschreibreform eintragen.
7. 6. 1999
"abschließende bemerkungen zu einer elenden ‚debatte'": Die wiener schule für dichtung nimmt Stellung zur Rechtschreibreform. […] um versäumtes wenigstens metaphorisch nachzuholen, haben wir entschieden, unsere ablehnung mit einem zeichen zu verbinden vom heutigen tag an — unter beibehaltung gewisser "dichtericher freiheiten" im rahmen der bisherigen orthographie — generell die kleinschreibung zu verwenden.
4. 6. 1999
Das Verfassungsgericht des Landes Berlin hat am Mittwoch zwei Klagen von Bürgerinitiativen zurückgewiesen: die der Gegner der Rechtschreibreform und die der Antragsteller auf ein Volksbegehren für "mehr Demokratie".
Ich war zwölf Jahre lang Geschäftsführer von Verlagen, und als solcher weiß ich immer noch nicht, was uns veranlaßt hat, die neue Rechtschreibung einzuführen. Schon die erste Rechtschreibe-Reform und die Jahrhundertwende war eine Katastrophe, weil Sie so wunderschöne Schreibweisen wie Tau mit th unterbunden hat.
3. 6. 1999
Die Bedingungen für das Berliner Volksbegehren gegen die Rechtschreibreform werden nicht verbessert. Das Berliner Verfassungsgericht wies am Mittwoch die Klage der Reformgegner ab, die die Unterschriftenlisten an mehr Orten hatten auslegen lassen wollten.
Die Berliner Gegner der Rechtschreibreform sind am Mittwoch mit einer Klage für bessere Bedingungen ihres schleppend laufenden Volksbegehrens gescheitert. Der Verfassungsgerichtshof des Landes erklärte sich für nicht zuständig. […] Ein "Volksbegehren" und seine Organisatoren seien kein Verfassungsorgan, somit sei der Verfassungsgerichtshof nicht zuständig.
Die Richter erklärten sich für nicht zuständig, dies sei vielmehr das Verwaltungsgericht. Doch das Verwaltungsgericht hatte sich bereits in einer Klage vor vier Wochen für unzuständig erklärt und auf das Verfassungsgericht verwiesen. «Dies ist eine Rechtsschutzlücke», sagte der Anwalt der Reform-Gegner, Jörg Seppelt. […] «Wir werden in den fünf Wochen, die uns jetzt noch bleiben, versuchen, das Unmögliche möglich zu machen», sagte Gernot Holstein, der das Volksbegehren vertritt.
Manchmal ist für Demokraten die Demokratie — zumindest wie sie praktiziert wird — schwer zu verstehen. […] Hat da jemand Angst vor dem Erfolg des Volksbegehrens?
Der "Berliner Verein für deutsche Rechtschreibung und Sprachpflege" sei zur Organklage nicht berechtigt, hieß es.
Der Verein hat nun nach Worten seines Sprechers Gernot Holstein ernsthaft Sorge, die nötigen 243.000 Unterschriften für einen Volksentscheid über die Rechtschreibreform in Berlin nicht bis Fristablauf am 9. Juli zusammenzubekommen.
Die Beteiligung an dem vom 10. Mai bis 9. Juli laufenden Volksbegehren gegen die Rechtschreibreform ist bislang äußerst schleppend.
2. 6. 1999
Im Gehorsam vor der Idiotenregel "im Zweifelsfall getrennt" geben sich die Agenturen noch päpstlicher als der Papst; im Auseinanderreißen des Zusammengehörigen sind sie noch verbohrter als die amtliche Neuregelung. […] Nun müssen wir Mut maßen, daß auch Blitz gescheite Leute Grund verkehrt agieren können, wenn sie Brand aktuell sein wollen. Und wie werden die Zeitungsredaktionen reagieren, wo ja, wie man hört, noch immer Leute sitzen, die ihr Handwerk verstehen? Vielleicht werden sie ganz bescheiden bei den Nachrichtenagenturen anfragen, wer ihnen eigentlich das Mandat erteilt hat, an der Sprache herumzupfuschen und dabei noch rabiater durch den Porzellanladen zu trampeln als die Kultusminister.
1. 6. 1999
(1) Duden. Die deutsche Rechtschreibung. Bibl. Inst., 38 Mark
Peil ist gerade dabei, alle seine Zeitungen abzubestellen, auch den Tagesspiegel. Ich schlage ihm vor, das ruhig zu tun, aber mit dem Tagesspiegel noch ein bißchen zu warten. Geht nicht, sagt Peil, wißt ihr, was ihr schreibt ab August, wenn die neue Rechtschreibung für euch verbindlich wird? "Mode bewußt", schreibt ihr, und "ein selbst bewußter Mann". - Unmöglich!, rufe ich. Der Verfasser der Peilschen Wörterliste lächelt ein trauriges, defätistisches Lächeln wie alle Menschen, die zuviel wissen und sehr darunter leiden. […] Vielleicht sechzig Neuschreibversehrte sind in den Spandauer Ratskeller gekommen. […] Aber kein Reform-Befürworter ist im Raum. Also überzeugt man sich selbst noch einmal von dem, was man längst schon weiß. Auf revolutionären Versammlungen ist das so.
6. 1999
Die Mai-Nummer des NZZ-Folio fällt durch verschiedene Neuerungen auf. Doch eine wichtige Neuerung fehlt mir sowohl im Folio als auch in der NZZ nach wie vor, nämlich der Schritt zur seit dem 1. August 1998 im deutschen Sprachraum eingeführten neuen Rechtschreibung.