Zum 1. August 2005 soll die Rechtschreibreform endgültig in Kraft treten. […] Die Frage ist allerdings, ob es den Deutschlehrern gelingt, sich durch das Dickicht des Regelwerks zu kämpfen.
Bund für vereinfachte rechtschreibung (BVR)
Aus presse und internet
31. 12. 2004
Hinauslaufen wird all dieses Gezerre um eine Reform, die von vornherein überflüssig war, wohl darauf, dass weiterhin dass geschrieben wird, aber ansonsten allmählich die alten Zustände wiederkehren.
Womöglich kann sich Deutschland nur deshalb so unendlich leidtun, weil es das Leid fast nur aus den Fernsehnachrichten und aus sicherer Entfernung kennt. Nur ein Land wie Deutschland konnte Netzadressen wie jammern.de oder deutscherfrust.de hervorbringen. Und nur das deutsche Jammerjahr 2004, der Höhepunkt unserer Krise, vermochte Sätze wie den des Kulturkritikers Marcel Reich-Ranicki zu erzeugen: Rechtschreibreform? Ein großes Unheil. Eine nationale Katastrophe. […] Kommaregeln, Wettkampfzeiten, Klamottenkauf: Wir sorgen uns darum, wir erleben Desaster darin, wir erleiden nationale Katastrophen dadurch.
2004 war das Jahr des Jammers, der Pleiten, des Pechs und der Pannen gewidmet der Depression: Karstadt-Krise, Opel-Katastrophe, Rechtschreibreform-Desaster, Pisa-Schock, EM-Debakel . . . Es ist nun aber so mit der Jammerei, dass einem auch die traurigste Traurigkeit und das vollendetste Versagen irgendwann auf die Nerven gehen. Weshalb man allmählich anfängt, positiv zu denken. […] Die Rechtschreibreform wird sich noch als wahrer Segen und Toll Collect als ewiger Quell der Freude erweisen.
30. 12. 2004
Was zur Zeit in Sachen Türkei-EU-Beitritt abläuft, erinnert mich stark an die Debatte um die Rechtschreibreform. Da bringt die F.A.Z. jede Menge Beiträge, bei deren Lektüre man aus dem Kopfnicken gar nicht mehr herauskommt; die Mehrheit der Bevölkerung ist gegen einen Beitritt; Fachleute warnen eindringlich — nützen wird das alles gar nichts.
Rückname, die (eigtl.: Rücknahme, die). Falsch geschriebenes Wort im Editorial des »Spiegel«-Chefredakteurs Stefan Aust vom 9. August, in dem er ankündigte, gemeinsam mit den Publikationen des Axel-Springer-Verlags zur alten Rechtschreibung zurückzukehren, und die "R. der bürokratischen Zwangsschreibe" forderte. Dessen ungeachtet beschlossen die deutschen Ministerpräsidenten zwei Monate später, die umstrittene Rechtschreibreform nach Ende der siebenjährigen Übergangszeit zum 1.8.2005 in Kraft treten zu lassen.
29. 12. 2004
Und so schreiben heute die Bild, die Braunschweiger Stadtverwaltung und die CDU-Fraktion im niedersächsischen Landtag wieder wie dunnemals - und keinen kümmert's. Warum? Weil sich niemand von irgendwelchen Politikern oder Boulevardzeitungen vorschreiben lassen will, wie er "Schifffahrt" buchstabiert. […] "Ketschup" oder "Restorant" dürften wieder aus dem Duden gekickt werden […].
«Restorant» müsste man aber erst in den duden hineinkicken.
28. 12. 2004
Rechtschreibreform: wurde insbesondere von der Bild-Zeitung ebenso erbarmungs- wie erfolglos boykottiert.
23. 12. 2004
Aber wie anfällig die KMK ist, hat man letztes Jahr gesehen, als Niedersachsen plötzlich seinen Ausstieg aus dem Gremium ankündigte - ein Profilierungsversuch seines CDU-Ministerpräsidenten. Immer wieder funken Ministerpräsidenten dazwischen, wenn ihre Kultusminister bereits abgestimmt haben - so wie auch im Sommer bei der Rechtschreibreform.
Unsere sog. "Volksvertreter" haben nach sechsjährigem Gezerre um die Föderalismusreform erneut bewiesen (siehe Rechtschreibreform!), dass sie inzwischen völlig unfähig geworden sind, zwischen Länder-Egoismen und nationalen Notwendigkeiten zu unterscheiden.
22. 12. 2004
Den Kampf Ihrer Zeitung gegen die Rechtschreibreform und die Rückkehr zur bewährten Rechtschreibung haben wir bewundert und dankbar zur Kenntnis genommen. Eine tägliche Freude waren die Überschriften Ihrer Kommentare in der formschönen Frakturschrift. Bis auf wenige Ausnahmen wurde dabei das Lang-s richtig verwendet. Zu unserem großen Bedauern hat sich die Redaktion jetzt entschlossen, nur noch das Rund-s zu verwenden.
Wer Fraktur richtig schreiben will, muß sich damit Mühe geben, erleichtert aber das Leseverständnis in ähnlicher Weise wie mit der herkömmlichen Rechtschreibung […].
Die klare Haltung, die Ihre Zeitung in der Frage der Rechtschreibung auszeichnet, sollte auch im Schriftsatz gewahrt werden. […] lieber Antiqua richtig als Fraktur falsch.
Seltsam allerdings, dass sich in seinem Denken zuletzt eher wertkonservative Züge zeigt. […] Und ganz und gar nicht elegant waren seine Einlassungen in Sachen Rechtschreibreform; statt mit dem Florett zuzustechen, hat er mit dem Holzhammer zugehackt.
20. 12. 2004
Das Gezänke darum, wie man richtig schreibt, ist Mitte der 1990er Jahre ohne Not von Bürokraten und Technokraten angezettelt worden. Sie glaubten, dass sie von oben verordnen können, wie ihre Untertanen in der Schule oder im Schriftverkehr mit der Obrigkeit zu schreiben haben. […] Oft ist es besser, der Staat mischt sich nicht in private Angelegenheiten ein, die ihn nichts angehen.
In der tat, das ist «Gezänke». — Es ist sogar immer besser, der staat mischt sich nicht in private angelegenheiten ein, die ihn nichts angehen. Aber wer hat vor 1996 verordnet, wie in der obligatorischen schule geschrieben wird?
«Im Wundergarten der Sprache» heisst die Festschrift für Reiner Kunze, der als Gegner der Rechtschreibreform geehrt wird. Schon im Untertitel «Beiträge gegen die Rechtschreibreform» wird der Paradiesgarten prosaisch, und von der Subtilität eines Reiner Kunze ist im Vorwort nichts mehr zu spüren. Von «Ungeschick und Tölpeltum», von «Missgeburt» spricht Herausgeber Stefan Stirnemann. […] Mit der Bibel als Referenz ist Orthographie zur Frage des Heils geworden. Hoch gegriffen.
Auf deutscher Seite verzichteten stark angefeindete Reformer aus der alten Kommission darauf, sich erneut berufen zu lassen; hingegen sind die vorigen österreichischen und Schweizer Vertreter auch jetzt wieder dabei. Zu den neuen Gesichtern der Schweizer Abordnung gehört der Chefkorrektor der NZZ, Stephan Dové, der vom hiesigen Zeitungs- und Zeitschriftenverlegerverband nominiert worden war. […] Irreführend ist die Aussage der Präsidentin der deutschen Kultusministerkonferenz, die Weiterentwicklung der Schreibregeln geschehe «nunmehr in einem politikfernen Prozess». Wie seine Vorgängerin, die Zwischenstaatliche Kommission für deutsche Rechtschreibung, steht auch der neue Rat in der Pflicht, für Änderungen am Regelwerk den Segen der Politik einzuholen.
Nach dem Desaster der Rechtschreibreform hat sich die regierende Ahnungslosigkeit in Bund und Ländern wieder einmal von putschistischen selbsternannten Reformern über den Tisch ziehen lassen.
18. 12. 2004
Es ist zu bezweifeln, dass es tatsächlich bis zum 1. August 2005 - dem Tag des Inkrafttretens - zu einem Konsens zwischen den Reformern und ihren erbitterten Gegnern kommt. Doch Zehetmair scheint es ernst zu sein mit dem Versuch, "die deutschsprachigen Menschen mit der Rechtschreibung zu versöhnen". Was die nötigen Korrekturen betrifft, hat er sofort Vorschläge parat.
Letzteres war zu befürchten. — An der aufgabe, «die deutschsprachigen Menschen mit der Rechtschreibung zu versöhnen», ist schon Konrad Duden gescheitert.
Der designierte Vorsitzende des Rates für deutsche Rechtschreibung glaubt an einen Erfolg des Gremiums. […] Er sei da guter Dinge.
Es muss eine Übereinkunft gefunden werden. Höchste Zeit oder fast schon zu spät. Aus Verwirrung ist nämlich vielfach schon Beliebigkeit geworden. Wenn Lehrer so schreiben und Literaten anders, wenn nicht mal Zeitungen einig sind, fehlt dem einzelnen jede Norm.
Wir erinnern uns: In vielem war die DDR, der die zeitung entstammt, kleinbürgerlich und konservativ.
Der Rat ersetzt die zwischenstaatliche Kommission, welche im Auftrag der KMK die Reform vorangetrieben hatte. Während in der Kommission allerdings vor allem Sprachwissenschaftler saßen, sind im Rat auch Praktiker vertreten, etwa Zeitungsverleger, Lehrergewerkschaften, Elternvertreter und Buchverlage.
Die Rechtschreibreform wollte Wulff zurücknehmen lassen: hat nicht geklappt. […] Nun haben die Ministerpräsidenten beschlossen, die Personalkosten des Sekretariats um "weitere 20 Prozent" zu senken. […] Ein Stellungnahme des betroffenen Sekretariats der Kultusministerkonferenz war bis Redaktionsschluss nicht zu erhalten. […] dort hieß es, dass die zuständigen Herren nicht erreichbar seien. Sie weilten in Mannheim bei der "konstituierenden Sitzung für den Rat der deutschen Rechtschreibung".
17. 12. 2004
Über die deutsche Rechtschreibung wacht seit Freitag eine neue Expertengruppe.
Was kann der Rat in dieser Lage tun, um seine Aufgabe zu erfüllen? […] Die erste Alternative nenne ich die KMK-Lösung […]: Die Rechtschreibreform ist beschlossene Sache, daran wird grundsätzlich nicht gerüttelt. Es darf nur "Präzisierungen" oder "Anpassungen" geben, allenfalls kleinere Änderungen am Regelwerk. […] Das Schisma der deutschen Rechtschreibung würde damit verfestigt. Die zweite kurzfristige Lösung ist dazu völlig konträr. Ich nenne sie die Akademie-Lösung […]: Beibehaltung der neuen ss-Schreibung als das Erkennungszeichen der Reformwilligkeit, aber Streichung fast aller inkriminierten sogenannten Neuregelungen: in der Getrennt- und Zusammenschreibung, der Groß- und Kleinschreibung, der Zeichensetzung, der Fremdwortschreibung, der Stammschreibung, der Silbentrennung. Das ist gar nicht schwer, da im wesentlichen die seit hundert Jahren gültige Einheitsschreibung wiederhergestellt würde. […] Die dritte Lösung ist nur mit einer Verlängerung der Übergangszeit, einem Moratorium, realisierbar. Ich nenne dies die Reform der Reform. Alles müßte auf den Prüfstand, jede Regelung müßte auf ihre Auswirkungen im Gesamtwortschatz, auf die deutsche Grammatik, die Praxis der Schule, der Buch- und Zeitungsverlage, der elektronischen Medien überprüft werden. Alles, was in der bisherigen Reformgeschichte versäumt oder falsch gemacht wurde, wäre nachzuholen. Eine langwierige Aufgabe.
15. 12. 2004
Acht Experten und eine Expertin sind in der österreichischen Delegation für den Rat vertreten. Das ist mager.
In der vergangenen Woche hatte der auf Kündigungen spezialisierte Ministerpräsident (siehe Kultusministerkonferenz und Rechtschreibreform) mal wieder Schlagzeilen gemacht: Der NDR berichte zu wenig über Niedersachsen.
13. 12. 2004
Strauss, Strauß, Straus: Die Rechtschreibreform schafft keine Hilfe beim Namenswirrwarr der musikalischen «Sträuße» aus Bayern und Wien.
Die entsprechende Regel lautet nämlich nicht, wie man der Sprachgemeinschaft weismachen will: Nach kurzem Vokal schreibt man Doppel-s. Bitte: küsste-Küste, isst-ist, Bus-Kuss, bis-biss, das-dass und so weiter. Verschwiegen wird die notwendige Einschränkung: wenn das Wort früher mit ß geschrieben wurde. Das muß man also lernen und wissen, und wenn man es weiß, kann man auch gleich leserfreundlich ß schreiben.
8. 12. 2004
Angesichts der enormen Komplexität der Sprache und der großen Variabilität des gesprochenen Wortes mutet es schon fast wie ein Wunder an, wenn der PC ein Diktat unter Berücksichtigung von Syntax, Semantik und Grammatik mehr oder weniger fehlerfrei in geschriebenen Text umsetzt. […] Mit etwas Training erreicht man mit der neuen Dragon-Software schnell eine Erkennungsrate von 95 Prozent, mit viel zusätzlichem Aufwand nähert man sich der 99-Prozent-Marke. […] Die neue Version braucht einen leistungsstarken Rechner: ein Pentium 4 mit mehr als 3 Gigahertz […] sollte es schon sein. Ein weiterer Nachteil von Version 8: Die alte deutsche Rechtschreibung wird nicht mehr unterstützt. Während allein ein halbes Dutzend englischer Dialekte (unter anderem "indisches Englisch") in der Scansoft-Software berücksichtigt werden, stellt man sich bei der deutschen Version gegen die Schreibgewohnheiten der großen Mehrheit der Bevölkerung: eine unverständliche Entscheidung von Scansoft. Schade eigentlich, daß es bei dieser wichtigen Zukunftstechnik keinen Mitbewerber gibt.
Zukunft ist eben zukunft. Die konservativen rentner mit einem 3-GHz-pc werden wohl ein zu kleines marktpotenzial sein.
7. 12. 2004
Unser Universum wäre demnach aus einem schon bestehenden, so genannten bizarren Quanten-Vakuum entstanden. […] Aus dem bizarren Quanten-Vakuum könnten weitere Universen entspringen oder schon entsprungen sein — sie würden damit auch unsere umstrittene Rechtschreibreform mit einem bislang naturwissenschaftlich unnötigem Plural noch weiter belasten.
4. 12. 2004
Nach Karin Wolff (CDU, Hessen) übernahm im Rotationsverfahren für das Jahr 2004 Doris Ahnen (SPD, Rheinland-Pfalz) die Präsidentschaft der KMK. […] Die KMK jedenfalls kam im Ahnen-Jahr aus den Schlagzeilen nicht heraus — freilich ohne dass sie selbst der Auslöser war. Die Medienkampagne gegen die längst beschlossene Rechtschreibreform, der interne Reformprozess, überlagert durch die Länderinteressen in der Föderalismusdebatte — und jetzt noch die neueste "Pisa"-Studie: Bildungspolitik ist 2004 ungewöhnlich oft auch Machtpolitik gewesen.
Soll ich über das Zitat des "designierten Vorsitzenden" des so genannten "Rates für deutsche Rechtschreibung" einfach nur in Gelächter oder vor Entsetzen in Tränen ausbrechen? "Groß schreibt man Dinge, die man anfassen kann", sagte Zehtmair.
2. 12. 2004
[…] er war Generalkonsul in Australien und Generalsekretär der Alexander-von-Humboldt-Stiftung in Bonn. Er ist Jurist, Musiker und Schriftsteller. […] "Die angebliche Entlastung des Gedächtnisses durch digitale Systeme", so sagte es Osten, "ist ein grandioses System der Selbsttäuschung." […] Osten plädierte für eine "erinnerungsgestützte Bildung" und erkannte in der Rechtschreibreform "einen Angriff auf die Gedächtniskultur."
Dann kann man wohl auch über die erfindung der buchstabenschrift nichts gutes sagen.
1. 12. 2004
Abgesehen von diesen Neuerungen mit schätzungsweise zwei- bis dreitausend zusätzlichen Varianten bleibt auch dieser Duden der verordneten Reform treu. Erstmals in seiner Geschichte geriet der Duden damit in einen Konflikt zwischen Tradition und Obrigkeit und hat sich für letztere entschieden. Für alle, die diesen Weg nicht mitgehen möchten, bietet Theodor Ickler einen Ausweg. […] Kaufempfehlung des Rezensenten: Sprachinteressierte brauchen beide Bücher, für die anderen genügt das Rechtschreibprogramm im Computer.
Vor allem bei der Getrennt- und Zusammenschreibung gebe es Handlungsbedarf, sagte Zehetmair. Es sei nicht einleuchtend, dass das räumliche "auseinander setzen" getrennt, aber "sich auseinandersetzen" mit einem Gegner zusammengeschrieben wird.
Sind differenzierungen plötzlich nicht mehr einleuchtend? Wie auch immer: auseinander «in Verbindung mit Verben immer getrennt», steht im duden, 21. auflage.
12. 2004
Dieser «Rat für deutsche Rechtschreibung» soll gemäss diesem Vorschlag 36 (!) Mitglieder umfassen […]. Es ist vorauszusehen, wie wenig die Beobachtung der tatsächlichen Veränderungen des Schreibgebrauchs in einem solchen Gremium eine Rolle spielen wird. Der unselige Lobbyismus wird wohl weiterdauern.
Die Neuauflage war auf Grund der jüngsten Veränderungen in der Rechtschreibreform und im Hinblick auf das endgültige Inkrafttreten der reformierten Rechtschreibung im Auugst 2005 fällig geworden. Dass die Reform die Neuauflagen und damit das Geschäft der Wörterbuchverlage im Übermass fördere, ist übrigens weitgehend ein Gerücht. Schon vor der Reform produzierte der Duden rund alle fünf Jahre eine Neuauflage […].
Widerstand gegen die Rechtschreibreform, Widerstand gegen die Vermehrung der Angloamerikanismen in der deutschen Sprache — beides lässt sich vertreten. Geradezu paranoide Blüten treibt jedoch eine Kombination der beiden, die in den «Wiener Sprachblättern» (Heft 4/2004) zu lesen war: «Die Rechtschreibreform führt eine heimliche Amerikanisierung des Deutschen herbei. […]»
30. 11. 2004
Den Schülern Schreib-Regeln vorzusetzen, das ist freilich keine Kunst. Aber wer zwingt Grass?
Niemand. Dagegen dem literaturnobelpreisträger des jahres 2074 schreib-regeln vorzusetzen, das ist keine kunst, wie richtig festgestellt wird.
28. 11. 2004
Inzwischen sind es 85 000 Jugendliche in jedem Jahr, die sie ohne einen Abschluß verlassen: annähernd zehn Prozent. […] Diese "Dropouts", wie die Bildungsforscher des Kölner Instituts der Deutschen Wirtschaft sie nennen, können weder ausreichend rechnen noch ordentlich schreiben, beherrschen die deutsche Grammatik nur in gröbsten Zügen und die alte wie die neue Spielart von Rechtschreibung nur rudimentär. Sie kennen da auch keinen Unterschied, und er wäre ihnen vermutlich von Herzen gleichgültig.
24. 11. 2004
Der König rief, das Volk gehorchte. […] mitten im Sommerloch, am 29. Juni 2004, suchte der niedersächsische Ministerpräsident Christian Wulff (CDU) […] um basisdemokratische Unterstützung […]. Im niedersächsischen Elsfleth fällt sein Appell auf fruchtbaren Boden. […] Von hier aus starteten der Oldenburger Baumanagement-Professor Carsten Ahrens und seine Frau Gabriele 1998 das erste (und erfolglose) niedersächsische Bürgerbegehren gegen die Orthografie-Reform. […] Und hier in Elsfleth gründen sie […] keine fünf Wochen nach Wulffs Sommerloch-Vorstoß […] die Initiative "WIR gegen die Rechtschreibreform Niedersachsen". Heute, knapp vier Monate später, ist bei den Organisatoren des Bürgerprotests Katzenjammer angesagt. […] Schuld an dem Debakel, weiß Ahrens, ist in erster Linie einer: Ministerpräsident Christian Wulff. Der nämlich macht, nachdem er den anfänglichen Presserummel weidlich ausgenutzt hat, einen dreifachen Rückzieher.
13. Juni: Der niedersächsische Ministerpräsident Christian Wulff (CDU) fordert […] die Rückkehr zur alten Rechtschreibung. […] 22. Juli: Wulff fordert […], in puncto Rechtschreibreform die "Reset-Taste" zu drücken. […] 7. Oktober: Wulff räumt ein: "Es gibt keine Möglichkeit der Rückkehr zur alten Rechtschreibung."
20. 11. 2004
Seit rund 150 Jahren stehen sich zwei Varianten der norwegischen Schriftsprache gegenüber […]. Seit 150 Jahren tobt ein Sprachkrieg. Durch permanente Reformen, neben denen die deutsche Rechtschreibereform sich als schierer Theaterdonner ausnimmt, versuchte man, die beiden Idiome einander anzunähern.
19. 11. 2004
Wer Ablenkung sucht vom Wirrwarr der deutschen Rechtschreibreform, der findet sie im Wirrwarr der tatarischen. In dreißig Schulen Tatarstans ist man vom kyrillischen auf das lateinische Alphabet übergegangen […]. Und das "Gesetz über die Sprachen der Völker der Russischen Föderation" schreibt eindeutig vor, dass alle Nationalsprachen "auf der Basis des kyrillischen Schriftbildes" zu schreiben seien.
16. 11. 2004
Nachdem Wulff mit seinem Versuch bauchgelandet war, die "klassische" Rechtschreibung wieder einzuführen, dekretierte er, das gleichsam "klassische" weiße Niedersachsenross auf rotem Grund müsse auf sämtliche Briefköpfe, Visitenkarten und Behördenschilder des Landes zurückkehren.
11. 11. 2004
Auf das Schreiben konzentrierte sich der Sprachvirtuose und Gegner der Rechtschreibreform nie ausschließlich – Schriftstellerei allein führe, wie er einmal feststellte, zu einem "isolierten Dasein" und einer Betriebsblindheit des Autors.
10. 11. 2004
Es dürfte nur sehr wenige Lehrer geben, die das amtliche Regelwerk zur neuen Rechtschreibung in seiner ganzen Kompliziertheit studiert haben was auch kaum zumutbar wäre. […] Es ist bisher kein einziges Schulbuch bekannt geworden, das die Reform korrekt umsetzt. […] Was lernen die Schüler eigentlich von der neuen Rechtschreibung? Im Rechtschreibwortschatz der gesamten Grundschulzeit gibt es nach amtlichen Angaben nur 24 veränderte Wörter, allesamt wegen der s-Schreibung. […] Von der Kommasetzung dürfte hauptsächlich der Eindruck zurückbleiben, dass man Kommas jetzt weitgehend weglassen kann was die Schüler zwar schon immer gern getan haben, aber jetzt ist es richtig. Weder Lehrer noch Schüler wissen, daß die reformierte Kommasetzung ungemein kompliziert ist.
9. 11. 2004
Als Schulischerheilpädagoge, der mit Schülerinnenundschülern arbeitet, die häufig eine Leseundrechtschreibschwäche aufweisen, empfinde ich als eine der besten Erneuerungen der Rechtschreibreform die Getrenntschreibungvonbandwurmwörtern. Auch in Hinsicht auf die zunehmende Zahl von Erwachsenenmitleseproblemen […] erachte ich die Zusammenschreibung des Seebacherplatzes als galoppierendes Amtsschimmelhirndefizitsyndrom.
8. 11. 2004
In seiner Begrüssung kritisierte Präsident Robert Nef die Rechtschreibreform und bezeichnete die behördlich verordneten Regeln als schwerwiegende, verletzende Eingriffe ins Deutsche. Er wies mit Nachdruck auf die Wichtigkeit einer Verweigerung der Reform hin, um die Eigenart, Vielfalt und Lebendigkeit einer während Jahrhunderten gewachsenen Sprache zu erhalten.
7. 11. 2004
"Wenn es um die Sprache geht, kann jeder mitreden". Das steht im Klappentext zu Hans-Martin Gaugers Sachbuch "Was wir sagen, wenn wir reden". "Sprache ist Allgemeingut und nicht die Angelegenheit selbsternannter Aufpasser." geht es weiter. In Zeiten von Rechtschreibreform und endlosen Debatten um Anglizismen leuchten diese Sätze jedem ein. […] Schade, dass der Autor damit weder dem Klappentext, noch dem Untertitel seines Buches folgt.
6. 11. 2004
Liebe ist die Tochter der Freiheit. Darum muß sich die Sprache in Freiheit entwickeln können und vor allen bürokratischen Versuchen der zwangsweisen Veränderung geschützt werden – auch in der Schreibweise. […] wir brauchen uns also nicht zu schämen, wenn wir mit der Liebe zur Sprache und zum Wort den griechischen Fachbegriff Philologie etwas gefühlsbetont ins Deutsche übersetzen und damit einen zutreffenden Oberbegriff für beide Preisträger gefunden haben: für Reiner Kunze, den Dichter und Anwalt einer gewachsenen Schreibtradition[,] und für Klaus Bartels, den Lehrer, Publizisten und Anwalt der Lebendigkeit alter Sprachen.
5. 11. 2004
Also schreibt, wie ihr müßt, geschätzte Exkollegen im PEN oder sonstwo, dichtet und denkt immerzu! Was mir die teure und Gott sei Dank immer noch befreundete Schriftstellerin aber so wenig plausibel machen konnte wie der PEN und die Akademien, ist etwas anderes. Erstens: Immer wieder wurde ich auf Absurditäten der Reform hingewiesen - was aber nur beweist, daß das systemische Denken (Luhmann) noch Zukunft hat. Es gibt doch kein noch so durchdachtes Regelsystem, das irgendwo am Rande keine lächerlichen Beispiele produziert. Zweitens: Viele Gegner der Reform gerieren sich als tapfere Widerständler gegen amtliche Verordnungen von "oben", sorgen sich aber nur um die Bedeutung ihres Vereins, der in der Regel ohne staatliche Subventionen gar nicht existierte.
4. 11. 2004
Das kantonale Amt für Raumordnung und Vermessung hat erfolgreich bei der Dudenredaktion interveniert und in der neusten Auflage der deutschen Rechtschreibung eine schweizerische Sonderlösung erwirkt: Strassennamen mit geografischen Namen mit Endung -er dürfen in einem Wort geschrieben werden.
3. 11. 2004
Entsprechend sagt die Duden-Grammatik von 1966: "Es ist zu beobachten, daß die Verlaufsform heute im Deutschen - im Gegensatz etwa zum Englischen - nicht üblich ist." "Es ist zufrieden stellend" kann demnach schwerlich als Deutsch gelten, ebensowenig wie "es ist Besorgnis erregend" und ähnliches.
Über die Fortentwicklung der Rechtschreibung zu diskutieren, ohne die Kompetenz der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung, des PEN-Zentrums und der Akademie der Künste in Berlin zu nutzen, "erscheint mir problematisch", meinte die Staatsministerin.
Kompetenz?
Und wie ihr immer noch redet. Nach hundertvierunddreißig Jahren deutscher Einheit! Ihr seid die Schande jeder Rechtschreibreform!
2. 11. 2004
Nach der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung hat jetzt auch das deutsche PEN-Zentrum die ihm angebotene Mitgliedschaft im geplanten Rat für deutsche Rechtschreibung ausgeschlagen.
In der Politik gibt es lange verpönte Koalitionen, und auch die Satirezeitschrift "Titanic", die mit ihrer November-Ausgabe 25jähriges Jubiläum feiert, findet sich etwa in der Rechtschreib-Debatte in ungewohnter Partnerschaft wieder. Die Frankfurter Spitzfedern halten sich wie die Zeitungen des Axel-Springer-Verlages an die Orthographie der Vorreformzeit.
1. 11. 2004
Die mit 35 000 Euro dotierte Auszeichnung wird seit vier Jahren vom Verein Deutsche Sprache (VDS) verliehen - einer 16 000 Mitglieder zählenden Organisation, die sich der Reinhaltung der deutschen Sprache verschrieben hat. […] Loriot bedankte sich artig […]. Dafür äußerte er sich unlängst in der Bild-Zeitung über die Rechtschreibreform - in einer so unkomischen wie populistischen Weise, dass sie beim VDS auf große Begeisterung gestoßen sein dürfte: "Wir sind auf dem Wege, unser wichtigstes Kommunikationsmittel so zu vereinfachen, dass es in einigen Generationen genügen wird, sich grunzend zu verständigen." Achje. Auch große Humoristen werden nicht jünger.
30. 10. 2004
Die Kritiker würden in den Entscheidungsprozeß nur formell eingebunden, die Resultate der Beratungen stünden bereits fest, begründete die Schriftstellervereinigung ihre Entscheidung, die Mitarbeit […] abzulehnen. […] Ob der bereits gründlich desavouierte Rat überhaupt zustande kommt, erscheint zunehmend fraglich.
23. 10. 2004
Zwei Plätze in dem von Reformbefürwortern dominierten Rat waren ihr angeboten worden, jedoch hat die Akademie schon im Vorfeld klargestellt, dass ein solches Gremium klein und möglichst nur mit Wissenschaftern und Schriftstellern, nicht jedoch auch mit Interessenvertretern (Verlegern, Lehrergewerkschaften u. a.) besetzt sein dürfe.
16. 10. 2004
Das Gremium soll vor dem 1. August 2005 gewisse Änderungen bei der neuen Rechtschreibung prüfen. An diesem Tag tritt die Reform in deutschen Schulen und Behörden in Kraft.
15. 10. 2004
Jetzt schließen sich SPIEGEL und BILD zusammen und kämpfen gemeinsam gegen einen höchst nebulösen Popanz, der da heißt »Neue Rechtschreibung«. Oberstes Ziel ist es, das Deutsche Volk vor Vergewaltigung zu schützen: Sprache »ist Kern der Demokratie.« oberlehrert Stefan Aust, »Sie lässt sich nicht auf dem Verordnungswege vergewaltigen.« (Spiegel 33, vom 09.08.2004, Seite 5) Konsequenz? Man fordert die Rückkehr zur 1901 auf dem Verordnungswege vergewaltigten deutschen Sprache. Alte Vergewaltigungen sind nicht mehr schlimm, da weiß man doch, was man gehabt hat!
14. 10. 2004
Günter Grass will auch nach einer verbindlichen Einführung der Rechtschreibreform im August 2005 seine Werke weiter in der alten Schreibweise herausgeben. […] Zugleich bekräftigte er seine Ansicht, dass eine Rücknahme der "so genannten Reform" richtig gewesen wäre. Er befürchte, dass nun über viele Jahre verschiedene Schreibweisen in Schulen, Literatur und Medien nebeneinander bestehen. Das werde sich mit der Zeit zwar wieder regulieren, aber man wisse nicht, in welche Richtung.
Angst davor, dass verschiedenes nebeneinander besteht, dass man nicht weiss, in welche richtung es geht? Das muss ein kleingeistiger beamter geschrieben haben, ganz unmöglich ein schriftsteller. Abgesehen davon: Man weiss durchaus, in welche richtung es geht. Im jahr 2074 schreiben die schriftsteller so, wie sie es 2004 gelernt haben. Dafür liefert Grass den beweis.
12. 10. 2004
Genau wie Kinder führen Erwachsene Wörter im Mund, von deren Bedeutung sie bei Lichte betrachtet keinen blassen Schimmer haben. Zur Vermeidung von Blössen legen sie sich Inhalte zurecht, um Smalltalk über Themen vom Existenzialismus bis zur Rechtschreibereform führen zu können.
10. 10. 2004
Die Redaktion der SZ liefert gegen besseres Wissen ihr Handwerkszeug, die Sprache, der Willkür zerstörerischer Politik aus; es scheint, als hätte sie gleich Pontius Pilatus nicht die Haltung, dem staatlich verordneten Verbrechen an der Sprache entgegenzustehen […].
9. 10. 2004
Deutschlands Ministerpräsidenten stehen nun doch zur Rechtschreibreform. An ihrer Jahreskonferenz beschlossen sie, die von den Kultusministern einstimmig gutgeheissene definitive Einführung der neuen Rechtschreibung nicht aufzuhalten. Die Reform soll aber durch einen «Rat für deutsche Rechtschreibung» begleitet werden. […] Die Schweizerische Konferenz der kantonalen Erziehungsdirektoren (EDK) begrüsst den Entscheid. «Alles andere hätte an den Schulen zu einem Chaos geführt» […]. Unterstützung aus der Schweiz erhält auch der Rat für deutsche Rechtschreibung. Die Schweizer Vertretung im Rat wird die EDK zusammen mit dem Bund bestimmen.
8. 10. 2004
Das Kernstück der Rechtschreibreform wird laut einer bisher unveröffentlichten Studie stark in Zweifel gezogen. Ergebnisse von Langzeittests des Leipziger Erziehungswissenschaftlers Harald Marx zeigen, daß der Zischlaut „ß“ der fehlerträchtigste der Rechtschreibreform ist. Fazit: Die verschiedenen s-Schreibweisen werden sieben Jahre nach der Umstellung derart durcheinander gebracht, daß nach der Reform mehr Fehler auftreten als vor der Reform.
7. 10. 2004
Prominente Schriftsteller haben am Mittwoch im so genannten «Frankfurter Appell» die Rücknahme der Rechtschreibreform gefordert.
Wie sollte man die Bücher schützen und – direkt damit verbunden – wer sollte Zugang haben? […] Ähnlich verheerend wie Kriegszüge und Leser wirkten sich Revolutionen und Politikwechsel aus. […] Aber auch weniger drastische Ereignisse entwerten auf einen Schlag Bücher gleich tonnenweise: Umstellungen von Schriften (von Fraktur auf Antiqua oder von kyrillischen auf lateinische Buchstaben), Rechtschreibreformen und Gesetzesänderungen.
5. 10. 2004
Keine Frage: Besonders wenig Freunde hat die Neuregelung der deutschen Rechtschreibung bei den Poeten: In seltener, geradezu lemminghafter Einmütigkeit haben sie in den zurückliegenden Jahren in den Reihen der Reformgegner gewirkt, und sie tun es schon wieder. […] Übrigens ist von keinem aus dieser Runde je eine relevante wissenschaftliche Arbeit zu Fragen der Graphematik vorgelegt worden. Wenn man übrigens mit Menschen aus dieser Gruppe direkt das Gespräch sucht, geben sie oft unverblümt zu, dass sie entweder die Regeln gar nicht kennen (und sich an dieser Stelle voll auf ihre Lektoren verlassen) oder dass sie ihnen herzlich gleichgültig sind. […] Ich trete ein für die beschlossene Neuregelung und ich trete mit gleicher Entschiedenheit ein für das Recht von Autoren, ihre orthografischen Signale so zu setzen, wie es ihrem künstlerischen Gestaltungswillen entspricht.
Natürlich, man könnte sagen, alles nur Sommertheater. Aber in diesem Stück geht es so bitter ernst und humorlos zu, wie das wohl nur teutonische Stämme fertig bringen. Es droht wieder mal Chaos. […] Wer Deutschland in diesen Tagen nur aus dem Feuilleton kennt, der müsste tatsächlich glauben, die Basis der Kultur würde weggeätzt, das Schlimmste droht: Beliebigkeit. Am Ende weiß niemand mehr, woran er sich halten soll. Und, das scheint dort nun wirklich das Allerschlimmste, jeder macht, was er will.
4. 10. 2004
Es gibt viele Versuche, die deutsche Rechtschreibung zu korrigieren. Alle leiden an zwei Mängeln. Übersehen wird die Bedeutung der Orthographie für Leser, ignoriert die Kontinuität der Schriftform und deren Symbolwert für die eigene Sprache. Eine Charakteristik und Verteidigung der bewährten Rechtschreibung. […] Warum eigentlich geben die Griechen nicht ihre griechische Schrift auf? […] Sie ist ein Identifikationsmerkmal der Nation, nach innen und nach außen. Einen ähnlichen Symbolgehalt haben die Besonderheiten unserer Orthographie. Rechtschreibreformer haben stets das Ziel vor Augen, sie völlig zu beseitigen. […] Kontinuität wird erzielt durch Konservativität, durch das Festhalten am Schreibgebrauch über Jahrhunderte hinweg. Dauerhaftigkeit des Schriftkodes ist eine Grundbedingung jeder Schriftkultur. Deshalb nimmt die Schrift keine Rücksicht auf Veränderungen der Lautsprache, sondern gibt den üblichen Zeichen eine neue Interpretation. […] Oft kommt es zu Rechtschreibreformen, weil die Orthographie fälschlicherweise für ein "Kleid der Sprache" gehalten wird. […] Ich will der irreführenden Metapher vom "Kleid der Sprache" eine andere entgegensetzen: Die Rechtschreibung einer Sprache ist die "Haut der Sprache". Sie ist untrennbar mit ihr verbunden, mit der Sprache gewachsen und gealtert.
Also sprache = schrift = rechtschreibung. Dagegen gilt für Leiss nicht einmal die zweite gleichung: «Die Verschriftung ist nicht notwendigerweise mit Rechtschreibung verbunden. Es handelt sich um ein relativ junges kulturelles Phänomen, etabliert durch Sprach- und Schriftverbesserungsstrategen.» – «Dabei hätten Sprachwissenschaftler das nötige Wissen, um eine gesunde Skepsis gegen die Rechtschreibnormierung zu entwickeln: Sie wissen, dass Rechtschreibnormen nicht ‹ewig› sind, daß sie historisch entstanden und damit datierbar sind und daß sie in engem Zusammenhang mit der Herausbildung der Nationalstaaten stehen.» Skepsis ist im lichte der jüngsten vergangenheit auch gegenüber «nationalen identifikationsmerkmalen nach innen und nach aussen» angebracht. Dazu passt die munskesche geschichtsfilosofie: geschichte als erklärung des heutigen zustands, aber nicht als kontinuum. Denn gerade jetzt ist die geschichte an ihrem ende angelangt; zukünftige veränderungen wären «zerstörung». Zum glück hat uns das ende der geschichte erst nach dem verschwinden der fraktur ereilt. Diese wurde genau mit Munskes argumenten verteidigt. Munske beweist unfreiwillig, dass man das unverzichtbare schon nach kurzer zeit klaglos verschmerzt.
2. 10. 2004
Welche Sprache ist sich schon anderthalb Jahrtausende lang so gleichgeblieben wie die arabische? Die letzte Rechtschreibreform liegt über tausend Jahre zurück.
10. 2004
Wenn wir Schweizer also weiterhin bei unserer (sehr einfachen) Regelung der S-Schreibung bleiben, verhalten wir uns nicht inkonsequent, sondern wir sind nur der Auffassung, dass für einen Sonderfall nicht unbedingt ein Sonderzeichen verwendet werden muss.
Viel Rechthaberei und Polemik ist hier dabei. Dass etwa die totale Rückkehr zur alten Rechtschreibung gefordert wird, inklusive der komplizierten, alten ß-Regeln, mutet, besonders in der Schweiz, wo wir seit mehr als einem halben Jahrhundert ja ohne ß auskommen, unverständlich an.
Die komplizierte deutsche Rechtschreibung steht ja nicht erst seit gestern am Pranger. Denn Normalsterbliche wie Stefan Aust und Peter Müller mussten sich nicht nur als Schüler, sondern lebenslang mit einem Schreibsystem quälen, dessen Regeln oft nur für 60 Prozent der Fälle galten und daneben 40 Prozent Ausnahmen produzierten. Deshalb war zunächst ja auch fast jedermann für eine Reform.