Bund für vereinfachte rechtschreibung (BVR)
Berliner abstimmung zur rechtschreibung
Von den rund 100 anfragen, die jeden monat die auskunftsstelle des Zweiges Berlin der Gesellschaft für Deutsche Sprache (Deutscher Sprachverein) erreichen, gehören regelmäßig über 50 in den bereich der rechtschreibung. So drängte sich der gedanke auf, einen eigenen abend ausschließlich der rechtschreibung zu widmen, und zwar am 24. märz unter der absichtlich etwas herausfordernd gehaltenen frage: Ist unsere rechtschreibung noch „richtig“?
Es wurde die am besten besuchte und lebhafteste aller veranstaltungen. An die halbstündige einführung in die geschichte der deutschen schreibweise durch den vorsitzer des zweiges schloß sich eine einstündige aussprache, die mit leidenschaft und schärfe geführt wurde. Der leiter der aussprache, prof. dr. Paul Altenberg, hatte mühe, die immer wieder hochgehenden wogen zu glätten.
Die meisten redner hielten zwar die gegenwärtige rechtschreibung für unvollkommen, lehnen aber eine wesentliche änderung, vor allem das beschränken der großschreibung auf satzanfänge, eigennamen und briefanreden, ab. Allerdings spiegelte sich darin — wie sich später zeigte — die meinung der anwesenden nicht richtig wider.
Nach der aussprache wurde über folgende vier fragen abgestimmt.
- Soll an der gegenwärtigen rechtschreibung etwas geändert werden?
- Soll die großschreibung — ausgenommen satzanfänge, eigennamen und briefanreden — abgeschafft werden?
- Halten Sie darüber hinaus eine gemäßigte vereinfachung für erstrebenswert? (z. b.: der stängel, die schänke, behände, überschwänglich, frisör, ingeniör, fotograf, mikrofon, profet, strofe, reumatismus, rabarber, katarr, teater, apoteke, zilinder, sistem.)
- Sind Sie für eine radikale vereinfachung? (z. b.: di ban, der han, der brif, das bot, die fereinfachung, der fater, di forfäter, der wonnemonat mei, der fuks, di deiksel, der kleks, di kwelle, das kwadrat, di kwalität, der schef, di schifer, der krist, di kolera, das plato, das niwo.)
Von den abgegebenen 184 stimmzetteln waren leider nur 175 so ausgefüllt, daß sie eindeutig die meinung der abstimmenden erkennen ließen. Es stimmten
zu frage | 1 | (änderung überhaupt) 165 mit ja, 10 mit nein, |
2 | (abschaffen der bisherigen großschreibung) 116 mit ja, 59 mit nein, | |
3 | (weitere gemäßigte vereinfachung) 111 mit ja, 64 mit nein, | |
4 | (radikale vereinfachung) 11 mit ja, 164 mit nein. |
Das mitglied regierungsrat Walter Noffke hat das ergebnis noch nach verschiedenen richtungen aufgegliedert.
Es stimmten zu den fragen
1 | 2 | 3 | 4 | |||||
ja | nein | ja | nein | ja | nein | ja | nein | |
114 männer | 109 | 5 | 63 | 51 | 72 | 42 | 9 | 105 |
61 frauen | 56 | 5 | 43 | 18 | 39 | 22 | 2 | 59 |
altersgruppen bis 30 jahre | 26 | 1 | 17 | 10 | 19 | 8 | 1 | 26 |
31 bis 45 jahre | 38 | 4 | 26 | 16 | 22 | 20 | 1 | 41 |
46 bis 60 jahre | 54 | 2 | 41 | 15 | 36 | 20 | 3 | 53 |
über 60 jahre | 46 | 1 | 30 | 17 | 32 | 15 | 5 | 42 |
22 lehrer | 22 | 0 | 16 | 6 | 15 | 7 | 3 | 19 |
11 korrektoren | 11 | 0 | 4 | 7 | 6 | 5 | 1 | 10 |
11 schriftsteller, redakteure, verleger buchhändler | 11 | 0 | 8 | 3 | 6 | 5 | 1 | 10 |
14 schüler und studenten | 14 | 0 | 7 | 7 | 11 | 3 | 1 | 13 |
12 stenotypistinnen und sekretärinnen | 8 | 4 | 6 | 6 | 6 | 6 | 0 | 12 |
12 akademiker (ohne ingenieure) | 10 | 2 | 8 | 4 | 7 | 5 | 1 | 11 |
11 ingenieure und techniker | 10 | 1 | 8 | 3 | 5 | 6 | 1 | 10 |
19 kfm. angestellte | 18 | 1 | 17 | 2 | 14 | 5 | 1 | 18 |
27 bank- u. verwaltungsangestellte | 27 | 0 | 20 | 7 | 18 | 9 | 1 | 26 |
19 hausfrauen | 19 | 0 | 13 | 6 | 14 | 5 | 0 | 19 |
17 angehörige sonst. berufe | 17 | 0 | 11 | 6 | 8 | 9 | 2 | 15 |
Das ergebnis als ganzes darf man wohl richtig dahin deuten: Die menschen, die sich über unsere schreibweise gedanken machen, wünschen keinen radikalismus und keine überstürzung, aber auch keine bequeme untätigkeit. Sie möchten vielmehr, daß von denen, die es angeht, etwas geschehe, damit — nicht nur in einem teil, sondern im gesamten deutschen sprachgebiet — die deutsche schreibweise vereinfacht werde. Welcher segen könnte — von anderen vorteilen ganz abgesehen — daraus entsprießen, wenn für drei schuljahre je zwanzig deutschstunden frei würden, die bisher den schwierigkeiten unserer rechtschreibung gewidmet werden müssen und dann für die beschäftigung mit dem wesen und der geschichte unserer Muttersprache, für die anleitung zum guten deutschen ausdruck und stil zur verfügung ständen.
August Köhler, Berlin
Abdruck von Hans Ringeln:
