Bund für vereinfachte rechtschreibung (BVR)
Zurück an welchen start?
Zum «SOK-Manifest 2024» Zurück an den Start!
Am 23. oktober 2024 präsentierte die «Schweizer Orthographische Konferenz» (SOK) anlässlich einer tagung ein manifest mit dem titel: «Zurück an den Start! 28 Jahre zeigen: Die Rechtschreibreform ist irreparabel.» Das eigentliche manifest umfasst 9 seiten a5; angehängt ist eine 31-seitige begründung von prof. Wachter.
Manifest der «Schweizer Orthographischen Konferenz» vom 23. 10. 2024
Die SOK appelliert deshalb erstens an die deutsche Sprachgemeinschaft, diese Sackgasse [der reform] zu verlassen und sich die Hoheit über die Rechtschreibung, die ihr die Bildungspolitiker 1996 entrissen haben, wieder zurückzuholen […]. Dabei wäre es allerdings sehr hilfreich, wenn zweitens die Bildungspolitiker bereit wären, auf die Verantwortung für die Rechtschreibung, die sie 1996 unbedachterweise an sich gezogen haben, ganz offiziell wieder zu verzichten.
Zurück an den Start! Zurück in die zeit, als es noch keine smartphones gab, als das internet noch nicht allgemeingut war. Zurück in die zeit, als man wegen der fraktursetzer st nicht trennte.
Staat
Gemeint ist mit «Start» wohl der zeitpunkt, an dem «die politiker die verantwortung für die rechtschreibung an sich zogen». Nur: Mit dem zeitpunkt hat die SOK danebengegriffen. Hier ist der wirkliche start:
Konrad Duden: Orthographisches Wörterbuch der deutschen Sprache. Nach den neuen preußischen und bayerischen Regeln. 1880.
Durch die Einführung des im Auftrage des königl. preußiſchen Miniſteriums der geiſtlichen, Unterrichts- und Medizinal-Angelegenheiten herausgegebenen Büchleins «Regeln und Wörterverzeichnis für die deutſche Rechtſchreibung» in allen preußiſchen Schulen iſt ohne Zweifel die «orthographiſche Frage» nicht nur in ein neues Stadium getreten, ſondern, fürs erſte wenigſtens, entſchieden.

Hier, im vorwort zum «urduden» von 1880, ist Konrad Duden nicht empört, sondern erleichtert, dass das königl. preussische ministerium der geistlichen, unterrichts- und medizinal-angelegenheiten die verantwortung für die rechtschreibung an sich gezogen hat. In der Schweiz geschah das 1892 (bekräftigt 1901), wobei man im unterschied zu den anderen staaten ausdrücklich die dudenrechtschreibung einführte.
Im verhältnis des staats zur rechtschreibung hat sich seither nichts geändert, weder in den deutschsprachigen ländern noch anderswo. Materielle änderungen, also rechtschreibreformen, gab es da und dort. Dass die politik die rechtschreibung an sich zog, ist eine juristische aussage. Ob die politiker die verantwortung für eine sache haben oder nicht haben, ist ein staatsrechtliches problem. Staatsrecht ist offensichtlich nicht die stärke eines verlegers, eines sprachprofessors und eines lateinlehrers. Warum fragen sie nicht einen juristen?
Juristen haben sich tatsächlich einmal zur rechtschreibreform geäussert. In einer petition verlangten 54 juristen im jahr 2004 die rücknahme der reform. Die begründung war allerdings nicht juristisch, sondern rein materiell. Davon, dass sich der staat heraushalten sollte, war keine rede. Gefordert wurde, «daß die mit der Rechtschreibreform befaßten [wissenschaftlichen] Kommissionen von ihren Aufgaben […] entbunden werden». Entscheiden sollten «die zuständigen Parlamente». Das ist in sachen staat das genaue gegenteil von dem, was die SOK will.
Selbstverständlich kann man der meinung sein, der staat solle «auf die Verantwortung für die Rechtschreibung ganz offiziell wieder verzichten». Also abschaffung der amtlichen rechtschreibung. Ja, dass der staat in der obligatorischen schule von mehreren möglichen regelwerken 1 bestimmtes zementiert und damit die schüler als geiseln nimmt, wie sich gegner gerne ausdrücken, ist auch dem Bund für vereinfachte rechtschreibung ein dorn im auge, und zwar seit 100, nicht erst seit 28 jahren. Für jeden freiheitsliebenden menschen ist klar, dass wettbewerb besser ist als staatliche gängelung. Ganz berechtigt fordert die SOK, «dass die Reformvarianten … sich in fairem Wettbewerb den herkömmlichen Schreibungen stellen müssen». Wir würden uns keinesfalls dagegen wehren, weisen aber darauf hin, dass es dafür wohl auf der ganzen welt keinen präzedenzfall gibt, für rechtschreibreformen hingegen durchaus. In der praxis sehen wir zwei probleme.
Wettbewerb

Erstens: Für erwachsene gibt es den wettbewerb bereits, weil sie mit der amtlichen schulrechtschreibung nichts zu tun haben. Dieser text ist – wie Grimms wörterbuch – in diesem sinn ein wettbewerbsbeitrag. Auch die (immer selteneren) publikationen von reformgegnern in alter rechtschreibung sind wettbewerbsbeiträge. Warum reicht das der SOK nicht? Dafür gibt es wiederum zwei gründe. Die SOK kann den wettbewerb deshalb nicht gewinnen, weil sie ihre eigenen leute nicht vom wettbewerbsgedanken überzeugen kann. Ihre namhaftesten vertreter, Eisenberg, Munske und Kraus, und sogar die reformkritische partei «Alternative für Deutschland» publizieren mittlerweile in neuer rechtschreibung und haben sich so freiwillig aus dem wettbewerb zurückgezogen. Aber zum zweiten haben (bisher) auch Jacob Grimm, F. G. Klopstock, die herausgeber der «Lererzeitung» von 1873, der Bund für vereinfachte rechtschreibung, vier schweizerische gemeinden im 20. jahrhundert, James Pitman und George Bernard Shaw den wettbewerb nicht gewonnen. Es muss also etwas mächtigeres geben als die rationale erkenntnis, dass das in der schule gelehrte nicht der weisheit letzter schluss ist. Bernhard Weisgerber erklärt es: «Ein apodiktisch-unkritischer rechtschreibunterricht führt im regelfall dazu, dass auch der erwachsene das tabu der geltenden rechtschreibnorm nicht mehr anzutasten wagt.» Anders gesagt: Ein schüler, der auf grund des wettbewerbsgedankens oder wegen der metode lesen durch schreiben oder warum auch immer fogel schreibt, wird gezwungen, Vogel zu schreiben. Das gilt auch, wenn er Thür statt Tür oder im sinne der SOK nicht das geringste statt nicht das Geringste schreibt. Nach absolvieren der schulpflicht hat er keine lust, etwas für ihn neues zu lernen. Dass es eigentlich nichts neues ist, sondern das alte, «klassische», interessiert niemanden.
Als wettbewerb zum richtigen zeitpunkt kommt einzig die metode lesen durch schreiben in frage. Viele freunde hat diese metode nicht, aber die von der SOK postulierte einer abschaffung der amtlichen rechtschreibung eröffnet neue perspektiven. Der lehrer, also der staat, hätte kein recht mehr, fogel als falsch zu beanstanden. Er müsste den schüler nur darauf aufmerksam machen, dass in büchern und zeitungen (noch) Vogel geschrieben wird, was die lesefähigkeit sicherstellen würde. Regellos ist fogel ja nicht; die schreibung folgt nur anderen regeln (bzw. überhaupt einer regel). Die schule könnte durchaus darauf hinwirken, dass sich die schüler konsequent an regeln halten, nur müsste sie sich im sinne des wettbewerbs nicht mehr auf ein einziges, amtliches regelwerk beschränken. Die krux: Nirgends auf der welt versucht man, den 7-jährigen mehr als 1 regelwerk beizubringen. (Ein ansatz in dieser richtung war das britische initial teaching alphabet.) Wie die SOK das machen würde, verrät sie uns leider nicht. Vermutlich muss man sich vorstellen, dass der lehrer sagt: «Gestern haben wir gelernt: Beim trennen kommt der letzte konsonant auf die neue zeile, also Wet-ter, Wes-pe, Wes-te. Heute lernen wir, dass ihr aus rücksicht auf die fraktursetzer We-ste trennen könnt, aber nicht We-spe. Wes-te ist dann falsch. Das gilt aber nur, wenn ihr auch heute abend statt heute Abend schreibt. Morgen lernen wir alternativregeln für ck und drei konsonanten. Wenn ihr dann alle regeln und alle alternativregeln gelernt habt, könnt ihr entscheiden, welche besser sind.»
Zweitens: Zum wettbewerb antreten würde bei einer abschaffung der amtlichen rechtschreibung natürlich nicht nur, wie sich die SOK in ihrer realitätsferne das vorstellt, die rechtschreibung von 1901, sondern auch die vorbarocke substantivkleinschreibung und wohl auch weitere varianten einer fereinfachten bzw. ferbesserten rechtschreibung. Man müsste den 7-jährigen also nicht nur 2 regelwerke beibringen, sondern 3 oder mehr.
Ein vorschlag von Arno Schmidt zur güte: Die «wortspezialisten», wie sich Arno Schmidt ausdrückt, sollen weiterhin jedesmal statt jedes Mal schreiben. Das «volk», das bekanntlich über die einfachsten substantivierungen stolpert, muss man damit nicht belästigen. Oder glauben die «wortspezialisten» von der SOK wirklich, sie könnten die 7-jährigen von den vorzügen von jedesmal überzeugen?
Da ja eine klare mehrheit die rechtschreibung, ob alt oder neu, schon immer nicht beherrscht hat, kann man mit dem versuch, mehrere varianten zu lehren, nicht viel verderben. Hat denn diese mehrheit keinen einfluss auf den wettbewerb? Konkret (laut Spiegel vom 19. 6. 1995): «69 Prozent der Deutschen schreiben Rhythmus falsch […]. Noch größere Mehrheiten scheitern an Portemonnaie, Hämorrhoiden und Necessaire.» Von gross/klein nicht zu reden. Sieht so ein wettbewerbsgewinner aus?
Hoheit
Die «Sprachgemeinschaft» soll «die Hoheit über die Rechtschreibung … wieder zurückzuholen». Ja! Aber die sprachgemeinschaft besteht aus individuen, beispielsweise aus
- lehrern wie jenen, die vereine wie ferein für fereinfachte rechtschreibung (1876), Spelling Society (1908), Bund für vereinfachte rechtschreibung (vor 100 jahren), aktion kleinschreibung (1972) usw. gründeten,
- schulleuten, die 1873 das «organ des schweizerischen lerervereins» in fereinfachter rechtschreibung erscheinen liessen,
- lehrern und schülern wie jenen, die in den 1970er jahren an der realschule Muttenz im kanton Baselland die substantivkleinschreibung einführen wollten, aber nicht durften.
Einheitlichkeit
Wir würden ihnen noch so gerne die hoheit über die rechtschreibung zurückgeben. Aber will das die SOK wirklich? Wie verträgt sich das damit, dass schon wegen der winzigen reform «die Einheitlichkeit der deutschen Rechtschreibung massiv gestört ist»? Man erinnert sich an die begeisterung aller beteiligten vor 150 jahren, als der staat die sache in die hand nahm und die lang ersehnte einheit brachte. «Auch eine minder gute Orthographie» ist im interesse der einheitlichkeit «einer vollkommeneren vorzuziehen», schrieb Rudolf von Raumer 1855 und erntet nach wie vor weitherum zustimmung. Das nennt man aber nicht wettbewerb, sondern staatliches monopol.
Unserem Bund für vereinfachte rechtschreibung käme eine abschaffung der amtlichen schulrechtschreibung sehr entgegen. Trotzdem hat er das nie vorgeschlagen. Dass die SOK so locker damit kommt, ist nur so zu erklären, dass sie sich nicht nur beim datum der staatlichen machtübernahme irrt, sondern auch beim geltungsbereich der schulortografie. Bedeutungsschwanger fragt sie in einer medienmitteilung: «Wer darf der Sprache Vorschriften machen?» Natürlich niemand; das weiss sie. Sie könnte auch wissen, dass rechtschreibung und sprache nicht dasselbe sind und dass auch schulrechtschreibung und erwachsenenrechtschreibung nicht dasselbe sein müssen.
Die beiden irrtümer erklären die unerwartete ablehnung der reform in liberalen kreisen. Auch wir sind für weniger staat – und konsequenterweise für vielfalt, wettbewerb, fortschritt und ortografische freiheit. Dagegen ist es höchst inkonsequent und unglaubwürdig, die einheitlichkeit über alles zu stellen und ihre einzige stütze abzuschaffen.
Das manifest
Das an der tagung verteilte manifest «Zurück an den Start!» der SOK ist natürlich in alter rechtschreibung gedruckt, und zwar, wie in der Schweiz üblich, ohne ß. Letzteres machte es den tagungsteilnehmern nicht einfach, allfällige vorteile der alten rechtschreibung zu erkennen, ist doch weniger als 1 prozent der wörter betroffen. Das sind konkret etwas ein dutzend fälle der zusammen-/getrenntschreibung, die meisten wegen gross schreiben / klein schreiben. Augenfällig sind fünf trennungen, alle -st. Etwa fünf fälle betreffen die grossschreibung, wofür wir ja ein patentrezept hätten. Und sogar das wort eingebleut konnten die autoren unterbringen.

Laien können die schreibung praktisch nur anhand des ß der neuen oder alten norm zuordnen, vor allem anhand des allgegenwärtigen dass, was z. b. auf X/twitter sehr häufig geschieht, aber eben ausschliesslich deswegen. Daher wurden auf sok.ch zwei fassungen mit ß nachgereicht, eine gemäss Adelung und auch eine gemäss Heyse. Das gibt gelegenheit zu einer quantitativen betrachtung. Im manifest betrifft die adelungsche ß-schreibung 2,2 prozent aller wörter, die heysesche nur 0,6 prozent. Also ein manifest für 1,6 prozentpunkte. Ein «zurück» um 28 jahre hätte demnach in der praxis keine übermässig grossen auswirkungen. Man könnte mittels einer umfrage an einer tagung oder allgemein leicht abklären, ob mehr als null prozent der leser einen text der alten oder der neuen rechtschreibung zuordnen können. Die SOK wird sich hüten, das herauszufinden. Unsere hundertjährige erfahrung zeigt, dass den lesern im umfeld der real existierenden schreibungen manchmal nicht einmal die substantivkleinschreibung auffällt.
Rolf Landolt, Bund für vereinfachte rechtschreibung, gegründet 1924
- verweis
- Artikel Warum ist die Rechtschreibreform irreparabel? von Rudolf Wachter mit unseren anmerkungen.