Bund für vereinfachte rechtschreibung (BVR)
Unterscheidungsschreibung – eine ernüchternde bilanz
Zu Mario Andreotti, Rechtschreibreform – eine ernüchternde Bilanz, St. Galler Tagblatt, 17. 9. 2015
Nachweis unter presse und internet
Mario Andreotti beklagt eine sinnentstellende entdifferenzierung der sprache durch die neue rechtschreibung, die zwischen wörtlicher und übertragener bedeutung nicht mehr unterscheidet. In der tat, das kann sogar tödlich sein, wie die folgende geschichte beweist:
Matrose zum Kapitän: «Wir haben einen blinden Passagier an Bord, was sollen wir jetzt mit ihm machen?» – «Werfen Sie ihn über Bord!» Zehn Minuten später kommt der Matrose zurück: «Und was machen wir jetzt mit seinem Blindenhund?»

Gab es da nicht ein wundermittel gegen solche missverständnisse – die unterscheidungsschreibung? Sie müsste uns doch helfen, zwischen (auf italienisch) einem cieco und einem clandestino zu differenzieren. Aber eben, die sinnentstellende entdifferenzierung! Die rechtschreibreform ist allerdings nicht schuld. Selbst wenn auf dem schiff die alte rechtschreibung gegolten hätte (wie immer sich das auf den mündlichen dialog ausgewirkt hätte), hätte das dem blinden Passagier nicht geholfen, denn der ausdruck wurde schon immer nur so geschrieben. Ein ebenso tragischer fall ist Marie Antoinette. Hätte sie anhand der ortografie sehen können, dass brot eine wörtliche und eine übertragene bedeutung haben kann, hätte sie ihren legendären ausspruch («Wenn sie kein brot haben, sollen sie doch kuchen essen») nicht getan und so vielleicht ihren kopf gerettet.
Angesichts dieses traurigen versagens stellt sich die frage, wozu denn die unterscheidungsschreibung gut ist. Zu nichts!

Wir haben überhaupt kein problem damit, dass Kiefer (knochen) und Kiefer (pinus) gleich geschrieben werden. Weder dem schreiber noch dem leser ist die jeweils andere bedeutung bewusst. Anderseits sind uns unterscheidungsschreibungen wie Lärche/Lerche und malen/mahlen einzig als schreibschwierigkeit mit der notwendigkeit von eselsbrücken präsent, nicht als leseerleichterung. Wenn sie eine leseerleichterung wären, müssten wir diese bei Kiefer, Gericht (tribunale/ricetta), Ton (suono/creta), Fall (caso/caduta), Anzeige (denuncia/inserzione/indicatore) usw. usw. vermissen. «Eine zwecklose Erschwerung des Schriftgebrauchs ist es, gleichlautende Wörter verschiedener Bedeutung durch eine verschiedene Schreibung zu unterscheiden, da ja schon der Zusammenhang im Satze jedes Mißverständnis verhütet.» Das stellte Wilhelm Bleich schon 1900 fest.
Der zusammenhang ist alles, der buchstabe ist nichts. «Die menschliche Kommunikation wird ganz wesentlich vom inner- und aussersprachlichen Kontext, in dem ein Wort steht, gesteuert. Die Rechtschreibung leistet im Hinblick auf die kommunikative Leistung der Sprache wenig bis nichts.» So (zusammenfassend zitiert) formulierte es kein geringerer als Mario Andreotti vor zehn jahren. «Einzelne Wörter in einem Text können noch so fehlerhaft geschrieben sein, wir verstehen den Text in den allermeisten Fällen immer noch.» Sie können sogar irreführend geschrieben sein! Fast immer falsch sieht man: Mode für Sie und Ihn (englisch for you and Him in Heaven statt for her and him) und Die Drei von der Tankstelle (die ziffer 3 statt die drei männer). Ein fehlendes paariges komma kann patienten zu botengängen verdonnern: «Die Hilfskräfte sollen nach dem Problem fragen, wenn Patienten klingeln oder Botengänge übernehmen» («20 Minuten»). Das frappierende: Niemand versteht es so, wie es geschrieben steht; jeder liest es so, wie es gemeint ist. Die unterscheidungsschreibung, die ja hier ihre volle wirkung entfalten könnte, ist die lösung für ein nicht existierendes problem.

Und nun soll Die Leute sind stehen geblieben etwas anderes bedeuten als Die Leute sind stehengeblieben? Und gross schreiben (schreibweise 1, bedeutung 1, wörtlich: in grosser schrift) etwas anderes als grossschreiben (schreibweise 2, bedeutung 2, ein bisschen übertragen: mit grossem anfangsbuchstaben) und etwas anderes als grossschreiben (schreibweise 2, bedeutung 3, ganz übertragen: wichtig nehmen)? Für wen? Für jene hälfte der deutschsprachigen menschheit, die nicht weiss, wie man Standard schreibt (und damit von der fahne unterscheidet), oder jene drei viertel (auch zeitungen), die mit dem paarigen komma mühe haben? Ah nein, für die schriftsteller. Für welche? «Thomas Mann hat die Rechtschreibung […] keineswegs beherrscht», konstatierte Marcel Reich-Ranicki. Schriftsteller Martin Walser: «Rechtschreibnormen sind Zentralismusblüten, Haupteffekt: Fehlerproduktion.» Reformer Horst Sitta: «Es waren vielleicht 5 Prozent der Menschheit, die aus dem Unterschied zwischen ‹stehen geblieben› und ‹stehengeblieben› eine zusätzliche Information erhielten. Die Frage ist doch, ob die Rechtschreibung insgesamt die Fähigkeit hat, solche Differenzierungen auszudrücken.» Das ist keine «beschwichtigung», wie Andreotti meint, sondern eine grundsatzfrage.
Im fall der übertragenen bedeutung ist eine schreibregel nicht nur unnötig, sondern geradezu ein widerspruch in sich. Wenn sitzen bleiben ein problem wäre, wäre kein mensch auf die idee gekommen, die zwei wörter in einer anderen bedeutung zu brauchen als in der ursprünglichen. Es ist ja gerade das uneindeutige, das uns die möglichkeit gibt, eine nichtversetzung in die höhere klasse oder ein weibliches ledigbleiben nicht im klartext anzusprechen. Was veranlasst uns, Kohle, im Dunkeln tappen, schwarzes Schaf (alte und neue schreibung!), den Löffel abgeben, das Zeitliche segnen zu sagen, wenn wir unzweideutig Geld, nichts wissen, Aussenseiter und sterben sagen könnten? Es ist die fantasie – das sind die «feinheiten der sprache»! Das gegenteil von fantasie ist der beckmesserische zwang, alles in regeln zu zwängen. Hans Magnus Enzensberger sieht es wie Walser: «Die sogenannten Regelwerke sind Ersatzhandlungen, mit denen die kulturpolitische Impotenz kaschiert werden soll. Es ist für das Verständnis völlig unerheblich, ob es ‹Stengel› heißt oder ‹Stängel›, ob man ‹im Klaren› groß oder klein schreibt – es kommt vielmehr darauf an, ob jemand in der Lage ist, sich klar auszudrücken.»

Keine angst, Enzensberger und Walser gehören nicht zu den rechtschreibreformern, im gegenteil. Diesen geht es nicht darum, wie Andreotti ihnen unterstellt, jemanden «vom Joch der Regeln zu befreien». Die regeln sind durchaus kein joch, wenn sie den anforderungen entsprechen, die wir an alle vom menschen geschaffenen regeln – vom strassenverkehr bis zur religion – stellen: Sie müssen so einfach wie möglich sein, nicht obsolet (z. b. st-trennung) und immer gelten. Darum geht es den reformern. Auf dem meilenweiten weg dahin haben die linguisten 1996 zehn meter geschafft; 2006 haben die laien, die «ladenmenschen, die buchdrucker und ihre schwarzen myrmidonen aus dem schmierloch» (Schopenhauer) fünf meter zurückgerudert. Für die, die uns gedrucktes verkaufen, ist eine unvollkommene ortografie, die niemand beherrscht, kein problem. Wenn man die rechtschreibung (wie im englischen und natürlich im chinesischen) fast nur noch durch memorieren von wortbildern lernen kann, kann man auch die tese in die welt setzen, viel zu lesen sei der einzige weg zum rechtschreiberwerb: «In Wirklichkeit leitet kein Schreibkundiger die korrekte Schreibung von Regeln ab» (Theodor Ickler). Wenn das wahr wäre, was es zum glück (noch) nicht ist, wäre es eine kapitulation, eine aufgabe des kulturguts buchstabenschrift. «Die Regelhaftigkeit, d. h. die Unifizierung der Schreibung, muß Priorität haben vor der Uniformierung der Wörter durch den ‹Buchstabenausstatter Duden› oder eine andere Normierungsinstanz.» Das sagt Elisabeth Leiss, und sie geht sogar so weit, von den vielen ortografischen prinzipien nur das fonologische gelten zu lassen – gemäss der grundidee der buchstabenschrift. Aus all dem folgt auch, dass wir uns nicht vor varianz fürchten müssen. Mindestens die hälfte der leser könnte es gar nicht merken, wenn Standard, Rhythmus usw. anders geschrieben würden; die viel zitierte neunzigprozentige ablehnung einer neuregelung ist reine propaganda. Lesen funktioniert nicht buchstabenweise – wie gesagt, der zusammenhang ist alles, der buchstabe ist nichts. Soweit sie notwendig ist, ergibt sich die von den ladenmenschen beschworene ortografische einheit von selbst. Die einheit hatten wir übrigens im fall des ß nie, und die NZZ hatte schon immer eine hausortografie. «Die Forderung nach völlig lückenloser Uniformität der Schreibung ist keineswegs zwingend; im Bereich der schönen, auch der wissenschaftlichen Literatur, erheben sich sogar sehr ernsthafte Einwände gegen eine orthographische Einheitstyrannei» (Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung, 1964). Leiss konstatiert sogar eine «Vernichtung von Varianz» durch die keineswegs nur positiv gesehene schriftkultur, «eine Geisteshaltung, die viele Bereiche usurpiert». Die geisteshaltung hat in der gestalt des nationalismus mehr unglück über die welt gebracht als die von Andreotti beklagte gleichmacherei und das angebliche schreibchaos.
Bund für vereinfachte rechtschreibung, Rolf Landolt, Zürich (vorsitzer)