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Bund für vereinfachte rechtschreibung (BVR)

stichwort → wissenschaft
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ortografie.ch ersetzt sprache.org ortografie.ch ersetzt in zukunft sprache.org

wissenschaft

, Ueber den gebrauch …, , s. 29

Es iſt über­haupt zu be­dauern, daß man in ſo gar vielen fällen die ſprach­forſcher über­gangen und ihre ſtimmen un­gehört ge­laſſen hat, während man blind­lings obſer­vanzen folgte, die, wie in ſo vielen anderen angelegen­heiten des menſch­lichen lebens und wiſſens, bald genug gleichſam geſetz wurden. Wie ſchwer es dann hält, von dieſem wieder ab­zubringen, be­weiſen viele neue bei­ſpiele ſatt­ſam.

Ebenso wie sprache und schrift verwechselt werden (schichten­modell), wird oft nicht zwischen grundlagenforschung einerseits und angewandter wissenschaft und ingenieurwissenschaft anderseits unterschieden.

Matematik und fysik sind grundlagenforschung. Sie sind eine voraussetzung, dass man brücken, häuser und telekommunikationsgeräte konstruieren kann. Brücken, häuser und telekommunikationsgeräte entstehen aber nicht dadurch, dass man beobachtet und beschreibt. Sie entstehen, indem jemand etwas macht, entscheidungen fällt, normen definiert und risiken eingeht. Für das entstehen menschlicher werke braucht es zwingend 3 bereiche: forschung (deskriptiv), angewandte wissenschaften (präskriptiv) und ausführende hand­werker.

  wissenschaft handwerk
  grundlagen­forschung an­gewandte wissen­schaft, ingenieur­wissen­schaft  
all­gemein
  matematik, fysik, chemie (deskriptiv) archi­tektur, statik, norm­definition (präskriptiv) stahl­bau, beton­bau
orto­grafie literatur­wissenschaft, linguistik, didaktik typografie, druck, web

Unsere schrift wurde stark von den handwerkern geprägt, von den druckern zu Luthers zeiten bis zur heutigen «Bild»-zeitung. Das erkennt man u. a. daran, dass die grenze zwischen ortografischen und typografischen regeln verwischt wurde. Der beitrag der forscher, z. b. Adelung und Gottsched, heute Eisenberg, beschränkt sich darauf, den «usus» zu beobachten. Ihr handeln bzw. nichthandeln ist ihrer rolle gemäss, aber dazwischen fehlt etwas.

Ein bauwerk wird unter solchen umständen entweder nie fertig (wie die Sagrada Familia) oder es bricht zusammen (wie die Morandi- und die Carolabrücke). Dass beides auf die ortografie zutrifft, ist offensichtlich, stört aber leider niemanden. Der unterschied zwischen der dresdner brücke und der ortografie: Die ortografie funktioniert immer irgendwie. Analog würde man auf der Carolabrücke die trams weiterhin fahren lassen. Das rumpeln und die entgleisungen würde man als alleinstellungsmerkmal preisen und sich über die verweichlichten trampassagiere bekla­gen.

Grundlagenforscher werden an der universität ausgebildet, ingenieure an technischen hochschulen. Man kann sie grob so unterscheiden, dass erstere entdecken und letztere erfinden. Die schrift wurde eindeutig nicht entdeckt, sondern erfunden. Wo sind nun die wissenschafter, die sich des erfundenen annehmen? Sprachwissenschafter, auch linguisten, fühlen sich nicht berufen. Der grammatiker Eisenberg zum beispiel (vgl. unsere stellungnahme) sieht sich gegenüber der schreibung ausschliesslich als entdecker – wie gegenüber der sprache. Daraus leitet er die notwendigkeit ab, rechtschreibreformen zu bekämpfen. So weit gehen nicht alle sprachwissenschafter; andere weichen einfach dem tema aus. Beispiel: 1894 wurde an der universität Zürich die Gesellschaft für deutsche Sprache und Literatur GfdSL gegründet. Sie legte ausdrücklich fest, sich nicht am «Streit über die Rechtschreibung» zu beteiligen (NZZ-artikel). Haben matematiker und fysiker auch angst, ein brückeneinsturz diskreditiere die matematik und die fysik?

Alle 100 jahre geben sich einzelne wissenschafter (teilweise didaktiker) her, die lücke zu besetzen und sich ad hoc von den schulbehörden als kommission legitimieren zu lassen (z. b. die zwischenstaatliche kommission für die deutsche rechtschreibung). Die beteiligten wissenschafter ernten aber keinen dank; sie setzen sich zwischen die stühle. «Das Werk der Männer, welche vor 25 Jahren die deutsche Rechtschreibung regeln sollten, hat kein Uebermass von Beifall und Anerkennung gefunden.» Das stellte Th. Sprater 1901 fest, und das stellten wir 1996 fest. Dankbar müsste man zum beispiel dafür sein, dass typografisches aus der ortografie entfernt wurde (s-schreibung, drei­konsonan­ten- und trennregeln). Aber die handwerker haben sich 2006 zurück­gemeldet.

Wie man auf jeder baustelle sehen kann, können die drei genannten bereiche einander sowohl lieben als auch verachten. Über «die männer, welche vor 25 jahren die deutsche rechtschreibung regeln sollten» lästerte zum beispiel prof. Peter von Matt (Basler Zeitung, 18. 1. 2005): «Die führenden Sprachwissenschaftler sind gegen die neue Rechtschreibung. Es ist so, wie wenn die besten Herzchirurgen eine Empfehlung für eine bestimmte Operation abgeben, und dann kommen die Assistenzärzte und sagen: ‹Wir machen es ganz anders›». Selbst wenn es um assistenten ginge, wäre das eine ziemlich dumme metafer. Es geht aber um seine professoralen kollegen, und sie wollen es auch nicht «ganz anders» machen, sondern ein paar kleine krebsgeschwüre herausschneiden (und die grossen leider nicht antasten). Die «assistenzärzte» mit ihrem «Büt­tel­dienst im staatlichen Auftrag» (prof. Helmut Jochems) mussten viel erdulden, sollten aber Marcel Reich-Ranicki (Schweiz am Wochenende, 30. 5. 2020) beherzigen: «Wer angst vor feindschaften hat, der soll buchhalter werden.»

In Frankreich gibt es (nicht nur für die rechtschreibung) ein beratungsgremium mamens académie française, eine elite, laut Rudolf Walther eine «greisenclique». Ein versuch, bei uns die lücke dauerhaft zu schliessen, ist die gründung des rats für deutsche rechtschreibung. Damit er nicht zu innovativ wirkt, repäsentiert er die gesamte wertschöpfungskette. Damit passt er nicht in die lücke, und er soll nur die «entwicklung der schreibpraxis beobach­ten».

Die lücke in der wertschöpfungskette sieht die öffentlichkeit oft durch wörterbücher gefüllt, was aber weder ihre absicht noch ihre wirkung ist.


Wenn die angewandte wissenschaft versagt

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Die verantwortlichen reden sich damit heraus, dass eine ortografie nie vollkommen sein könne und dass es schlimmere als die deutsche gebe. Ersteres stimmt nicht, letzteres entspricht der ausrede von ladendieben, es gebe ja millionenbetrüger. Niemand will den schwarzen Peter in den händen halten. Aber jemand hat ihn – spätestens seit der erfindung der schulpflicht und der damit verbundenen idee, dass es nur 1 schreibung geben kann, eben eine staatliche.

Wer bestimmt, dass es nur 1 norm geben darf – in Deutschland ist die einheitlichkeit ein religionsgleiches bekenntnis –, muss dafür sorgen, dass es eine gute norm ist.


Zitate

, Utopie kreativ, , s. 33

Die Chancen einer echten Recht­schreib­reform hängen also in hohem Maße von der fachlichen Qualifikation der für ihre Vorbereitung und Durch­führung Ver­antwortlichen ab, seien es nun Sprach­wissenschaftler, Pädagogen oder Politiker.

, Saarbrücker Zeitung,

Man sollte diese Disziplinen [Philologen und Historiker] auf keinen Fall an der Recht­schreibung herum flick­schustern lassen, sondern es einem Natur­wissenschaftler oder Mathematiker übertragen, unsere Recht­schreibung nach Gesetzen der Logik auf einen end­gültigen Stand zu bringen. […] Philologen sollte die Recht­schreibung nicht aus­geliefert sein und auf keinen Fall Juristen oder Politikern. […] Eine absolut rationale Orthographie wäre eine dringende Notwendig­keit. […] Mit europäischer Integration sollte die Einführung einer rationalen Recht­schreibung schon etwas zu tun haben. Die anderen Länder sollten gleichzeitig mit dem Euro auch eine Laut-bezogene Recht­schreibung einführen. Die absolut ver­worrenste Orthographie - die englische - sollte in ihrer jetzigen Form endlich verschwinden. […] Wenn man an dem derzeitigen Stand etwas verbessern will, so kann man das nicht mit Demokratie machen, sondern mit klarem Verstand. Philologie ist keine Wissen­schaft des logischen Denkens. Folglich müßte man mit der Aufgabe, eine wirkliche Recht­schreibung zu entwickeln, mit der man richtig, ein­fachstens erlernbar und allgemein verbindlich schreiben könnte, einen Natur­wissenschaftler oder Mathemati­ker be­auftragen und nicht sogenannte demokrati­sche Instituti­onen, sogenannte Geistes­wissenschaftler, Politiker, Volks­massen oder sonstwas damit befassen. Man läßt ja auch nicht darüber abstimmen, ob 2x2 = 4 ist. Nun wäre es an der Zeit, alles, was unlogisch an ihnen ist, radikal ohne jegliche philologische und sonstige Kinker­litzchen zu eliminieren.

Heute weiß man, daß es völlig falsch war, Uni­versitäts­germanisten mit der Be­seitigung von Fehl­entwick­lungen in der deut­schen Recht­schreibung zu be­auftragen. Ein Arbeits­kreis aus tüchtigen Deutsch­lehrern, Korrektoren und Schreib­praktikern ver­schiedenster Art hätte das Problem in kürzester Zeit und zu jedermanns Zu­friedenheit gelöst.

Tatsächlich sind schon brücken und gebäude eingestürzt, weil sich die ingenieure verrechnet hatten. Hätte man einfach die handwerker machen lassen, wäre es vielleicht nicht passiert. Aber ist das ein allgemeingültiges rezept?

Das Wesen der Wissenschaft ist bekanntlich der offene Diskurs. Gegen dieses Prinzip hat der kleine Kreis der Rechtschreibreformer seit Jahrzehnten bewußt verstoßen, und dies in dem Wissen, daß seine zweifelhaften Ansichten in einem öffentlichen Fachgespräch keinen Bestand haben würden.

Das wesen der wissenschaft ist bekanntlich der offene diskurs. Gegen dieses prinzip hat der kleine kreis der reform­gegner seit jahr­zehnten bewusst verstossen, und dies in dem wissen, dass seine zweifel­haften ansichten in einem öffentlichen fach­gespräch keinen bestand haben würden.

, Frank­furter All­gemeine Zei­tung,

Wie stets im Konflikt um die Recht­schreibung treffen auch hier zwei unterschiedliche Grundüberzeugungen aufeinander. Während Eisenberg, Ickler und andere die Sprache und ihren Gebrauch als empirische Tatsachen auffassen, aus deren Beobachtung und Analyse sich Regeln formulieren lassen, haben die Reformer, etwa Peter Gallmann und Horst Sitta, überwiegend ein rein normatives Verständnis: Den Regeln, die der Sprachwissenschaftler am heimischen Reißbrett nach Gutdünken entwirft, habe die Sprachgemeinschaft zu folgen.

Das nennt man nicht unter­schiedliche grund­über­zeugun­gen, sondern ver­wechslung von sprache und schreibung.

, ,

Wenn man Linguisten nerven möchte, dann gibt es drei […] Möglich­keiten: […], man fragt sie nach ihrer linguisti­schen Meinung zur Rechtschreib­reform […]. Was die drei Fragen […] mit­einander zu tun haben, ist, dass sie den Finger in drei große Wunden der Sprach­forschung legen […]. Die Frage nach der Recht­schreib­reform […] steht für mich persönlich für den Zeitpunkt, an dem die Linguistik zum letzten Mal so richtig grandios versagt hat. Indem sie sich aus einer Diskussion über die Reform weitest­gehend heraus hielt, überließ sie das Feld den Literatur Schaffenden, die dann ihr persönliches ästheti­sches Empfinden an erste Stelle stellten […]. Zum gleichen Zeitpunkt begann man auch, immer mehr Institute der vergleichenden Sprach­wissenschaft zu schließen […]. Dass der historische Sprach­vergleich jedoch sehr wohl etwas zu sagen hat, wenn es um die Reform von Schrift­systemen, die ja historisch gewachsene Systeme dar­stellen, geht, das wurde dabei wieder einmal […] voll­ständig ignoriert.


verweise

stichwort diffusion

stichwort wörterbuch

Gerd Simon

stellungnahme Es muss nicht sein, wie es ist