Ebenso wie sprache und schrift verwechselt werden (schichtenmodell), wird oft nicht zwischen grundlagenforschung einerseits und angewandter wissenschaft und ingenieurwissenschaft anderseits unterschieden.
Matematik und fysik sind grundlagenforschung. Sie sind eine voraussetzung, dass man brücken, häuser und telekommunikationsgeräte konstruieren kann. Brücken, häuser und telekommunikationsgeräte entstehen aber nicht dadurch, dass man beobachtet und beschreibt. Sie entstehen, indem jemand etwas macht, entscheidungen fällt, normen definiert und risiken eingeht. Für das entstehen menschlicher werke braucht es zwingend 3 bereiche: forschung (deskriptiv), angewandte wissenschaften (präskriptiv) und ausführende handwerker.
Unsere schrift wurde stark von den handwerkern geprägt, von den druckern zu Luthers zeiten bis zur heutigen «Bild»-zeitung. Das erkennt man u. a. daran, dass die grenze zwischen ortografischen und typografischen regeln verwischt wurde. Der beitrag der forscher, z. b. Adelung und Gottsched, heute Eisenberg, beschränkt sich darauf, den «usus» zu beobachten. Ihr handeln bzw. nichthandeln ist ihrer rolle gemäss, aber dazwischen fehlt etwas.
Ein bauwerk wird unter solchen umständen entweder nie fertig (wie die Sagrada Familia) oder es bricht zusammen (wie die Morandi- und die Carolabrücke). Dass beides auf die ortografie zutrifft, ist offensichtlich, stört aber leider niemanden. Der unterschied zwischen der dresdner brücke und der ortografie: Die ortografie funktioniert immer irgendwie. Analog würde man auf der Carolabrücke die trams weiterhin fahren lassen. Das rumpeln und die entgleisungen würde man als alleinstellungsmerkmal preisen und sich über die verweichlichten trampassagiere beklagen.
Grundlagenforscher werden an der universität ausgebildet, ingenieure an technischen hochschulen. Man kann sie grob so unterscheiden, dass erstere entdecken und letztere erfinden. Die schrift wurde eindeutig nicht entdeckt, sondern erfunden. Wo sind nun die wissenschafter, die sich des erfundenen annehmen? Sprachwissenschafter, auch linguisten, fühlen sich nicht berufen. Der grammatiker Eisenberg zum beispiel (vgl. unsere stellungnahme) sieht sich gegenüber der schreibung ausschliesslich als entdecker – wie gegenüber der sprache. Daraus leitet er die notwendigkeit ab, rechtschreibreformen zu bekämpfen. So weit gehen nicht alle sprachwissenschafter; andere weichen einfach dem tema aus. Beispiel: 1894 wurde an der universität Zürich die Gesellschaft für deutsche Sprache und Literatur GfdSL gegründet. Sie legte ausdrücklich fest, sich nicht am «Streit über die Rechtschreibung» zu beteiligen (NZZ-artikel). Haben matematiker und fysiker auch angst, ein brückeneinsturz diskreditiere die matematik und die fysik?
Alle 100 jahre geben sich einzelne wissenschafter (teilweise didaktiker) her, die lücke zu besetzen und sich ad hoc von den schulbehörden als kommission legitimieren zu lassen (z. b. die zwischenstaatliche kommission für die deutsche rechtschreibung). Die beteiligten wissenschafter ernten aber keinen dank; sie setzen sich zwischen die stühle. «Das Werk der Männer, welche vor 25 Jahren die deutsche Rechtschreibung regeln sollten, hat kein Uebermass von Beifall und Anerkennung gefunden.» Das stellte Th. Sprater 1901 fest, und das stellten wir 1996 fest. Dankbar müsste man zum beispiel dafür sein, dass typografisches aus der ortografie entfernt wurde (s-schreibung, dreikonsonanten- und trennregeln). Aber die handwerker haben sich 2006 zurückgemeldet.
Wie man auf jeder baustelle sehen kann, können die drei genannten bereiche einander sowohl lieben als auch verachten. Über «die männer, welche vor 25 jahren die deutsche rechtschreibung regeln sollten» lästerte zum beispiel prof. Peter von Matt (Basler Zeitung, 18. 1. 2005): «Die führenden Sprachwissenschaftler sind gegen die neue Rechtschreibung. Es ist so, wie wenn die besten Herzchirurgen eine Empfehlung für eine bestimmte Operation abgeben, und dann kommen die Assistenzärzte und sagen: ‹Wir machen es ganz anders›». Selbst wenn es um assistenten ginge, wäre das eine ziemlich dumme metafer. Es geht aber um seine professoralen kollegen, und sie wollen es auch nicht «ganz anders» machen, sondern ein paar kleine krebsgeschwüre herausschneiden (und die grossen leider nicht antasten). Die «assistenzärzte» mit ihrem «Bütteldienst im staatlichen Auftrag» (prof. Helmut Jochems) mussten viel erdulden, sollten aber Marcel Reich-Ranicki (Schweiz am Wochenende, 30. 5. 2020) beherzigen: «Wer angst vor feindschaften hat, der soll buchhalter werden.»
In Frankreich gibt es (nicht nur für die rechtschreibung) ein beratungsgremium mamens académie française, eine elite, laut Rudolf Walther eine «greisenclique». Ein versuch, bei uns die lücke dauerhaft zu schliessen, ist die gründung des rats für deutsche rechtschreibung. Damit er nicht zu innovativ wirkt, repäsentiert er die gesamte wertschöpfungskette. Damit passt er nicht in die lücke, und er soll nur die «entwicklung der schreibpraxis beobachten».
Die lücke in der wertschöpfungskette sieht die öffentlichkeit oft durch wörterbücher gefüllt, was aber weder ihre absicht noch ihre wirkung ist.
Die verantwortlichen reden sich damit heraus, dass eine ortografie nie vollkommen sein könne und dass es schlimmere als die deutsche gebe. Ersteres stimmt nicht, letzteres entspricht der ausrede von ladendieben, es gebe ja millionenbetrüger. Niemand will den schwarzen Peter in den händen halten. Aber jemand hat ihn – spätestens seit der erfindung der schulpflicht und der damit verbundenen idee, dass es nur 1 schreibung geben kann, eben eine staatliche.
Wer bestimmt, dass es nur 1 norm geben darf – in Deutschland ist die einheitlichkeit ein religionsgleiches bekenntnis –, muss dafür sorgen, dass es eine gute norm ist.