Mich beschleicht beim Lesen mancher dieser 20-Jahre-Jubiläumsartikel der Verdacht, dass den Autoren/-innen die nötigen Kenntnisse über die Änderungen fehlen. Bei ihnen ist es dann eh egal, ob sie die alte oder die neue Rechtschreibung nicht beherrschen.
Die Rechtschreibreform lief auf eine Zerstörung von Semantik und Grammatik hinaus und hatte eine totale Verunsicherung der deutsch Schreibenden zur Folge.
Nach dreizehn Jahren versuchter Verbesserung gibt die neue Rechtschreibung unseren Texten noch immer keine feste Gestalt.
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Roman Bucheli, Neue Zürcher Zeitung, 27. 7. 2018
Im Grunde aber kann uns gar nichts Besseres passieren als eine Zunahme der Verunsicherung. Das ist die eine gute Nachricht. Natürlich wird das Leben dadurch etwas komplizierter, es wird auch weniger bequem und erscheint schliesslich so komplex, wie es in der Tat auch ist. […] Das Denken wird dadurch schärfer und präziser, die Vernunft wacher, und die Selbstwidersprüche, in denen wir es uns so schön eingerichtet haben, treten deutlicher hervor. Als Folge davon nehmen die Dispute eher zu als ab. Aber auch das kann nur zur Klärung von lange und grosszügig ignorierten Konflikten beitragen. Mit solchem Gewinn sollte sich doch durchaus leben lassen, auch wenn einiges an Ungemach damit verbunden ist. […] die Kunst […] muss dann erst recht und umso mehr auf ihren Prämissen bestehen: Einübung in die Freiheit des Denkens. Das wäre die andere gute Nachricht. In Zeiten, da alles unsicher wird, da alle wahren Absichten verwischt werden und kaum ein Wort mehr meint, was es gemeinhin bedeutet, da kann das künstlerische Remedium nicht heissen: noch mehr vermeintlicher Klartext im Brustton der Überzeugung. Dann gilt es erst recht, alles infrage zu stellen, sämtliche verbliebenen Gewissheiten zu prüfen und allen Widersprüchen auf den Grund zu gehen, indem sie zu Ende gedacht und also verschärft werden. Die Kunst könnte dann wieder werden, was sie ihrem eigenen Selbstverständnis nach sein sollte: Ein Labor für eine grosse Verunsicherung, die uns freilich herausfordert, da sie den Möglichkeitsraum öffnet ins Unabsehbare, da sie Denk- wie Atemwege freimacht, da sie angeblich Eindeutigem das Privileg der Mehrdeutigkeit und Offenheit zurückgibt. Verunsicherung müsste unter solchen Auspizien auch als Form einer anspruchsvollen Befreiung verstanden werden können. Sie stösst dann Denkgewohnheiten um und schafft also Freiräume, die das Vorstellungsvermögen ebenso in Schwingung bringen, wie sie eine kreative Unruhe zu stiften vermögen.
Die Orthographie […] ist, wie sie ist. […] Jede noch so gutwillige, gutgemeinte Manipulation am Gegenstand hat zu unterbleiben.
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Arthur Schnitzler
Die Welt ist überhaupt nur dadurch weitergekommen, dass irgend jemand die Courage gehabt hat, an Dinge zu rühren, von denen die Leute, in deren Interesse das lag, durch Jahrhunderte behauptet haben, dass man nicht an sie rühren darf.
Ohne Frank Schirrmachers Sturheit, seinen Widerwillen gegen die Verhunzung der deutschen Schriftsprache, würde der Duden heute anders aussehen.
Die Rechtschreibreform ist ein Riesendebakel, aber meinen Journalistenschülern am Medienausbildungszentrum ist sie egal, sie ist kein Thema mehr.
Und dies gedacht: Ist das die definition von «wachsen»?
Stellungnahme des schweizerischen bundesrates zu einem postulat von Kathy Riklin, 24. 11. 2004.
Der Bundesrat […] teilt […] die Ansicht der Postulantin, dass die deutsche Rechtschreibung unbedingt konsensfähig gemacht werden muss.
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Beda M. Stadler, professor für immunologie, universität Bern. Migros-Magazin, 2. 10. 2006
Konsens führt immer zu Mittelmässigkeit. Wenn wir glauben, der Konsens sei der Weg unserer Gemeinschaft, dann schaffen wir am besten gleich die Demokratie ab und sagen: 50 Prozent sind dafür und 50 Prozent dagegen.
Angela Merkel ist gerade 50 geworden. Um ihre Lernfähigkeit scheint es nicht gut zu stehen. Wie steht es aber um die «volle Beherrschung» der alten, der früher geltenden Rechtschreibung, zu der Merkel und viele ihrer Parteifreunde gern zurückkehren würden? Das hat die CDU-Vorsitzende nicht gesagt. Wohlweislich.
Kriege werden geführt, Volkswirtschaften zugrunde gerichtet, die Rentenkasse ist leer, und auch sonst gibt es wenig Grund zur Zuversicht. Doch die Empörung, die sich gegen die Besetzung des Irak, die Gebühr für den Arztbesuch oder den Ausfall der Maut für Lastwagen richtet, fällt gering aus gegen die Irritation, die sich unter den Deutschen jedes Mal verbreitet, wenn die Reform der Rechtschreibung in eine neue Etappe geht. […] Die neue Rechtschreibung weckt auch deshalb immer wieder so große Verärgerung, weil hinter ihr die Fratze einer sich im Nutzlosen, ja Schädlichen verschwendenden Obrigkeit, der puren Schikane erscheint.
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Prof. Michael Wolffsohn, München, Bild, 27. 3. 1998
Warum sind «die Deutschen» so hysterisch? Warum ist hier alles so verbissen?
Max Flückiger, chefkorrektor der FDP-nahen Neuen Zürcher Zeitung, 1974
Den Ungewißheiten zukünftiger Versuche ist die Gewißheit der heutigen Regelung bei weitem vorzuziehen.
Hans Weidner, Basel, korrektor, 1974
Sicherheit steht vor jeglicher Verunsicherung!
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Neue Zürcher Zeitung, 16. 8. 2003, s. 69, Zeitfragen
Erstaunlich: Die Freisinnig-Demokratische Partei der Schweiz (FDP) wirbt auf den Wahlplakaten mit dem Versprechen, für «Sicherheit» im Lande zu sorgen […]. Zugegeben, die Zeiten sind unsicherer als auch schon […]. Doch einer liberalen Partei, als die sich die FDP noch immer versteht, sollte nicht an erster Stelle die Sicherheit am Herzen liegen. Es ist die Freiheit, für die sich Liberale zuallererst einsetzen. […] Die Betonung der Sicherheit durch die FDP hängt nicht nur mit dem Wahlkampf zusammen […], sondern auch mit einem Denken und einer mentalen Stimmung, die im Neuen, im Wechselhaften und im Fremden eher Bedrohliches denn Chancen Bietendes erkennen obwohl sich gerade im Wandel die Fenster zur Freiheit öffnen. Bürgerlich-Liberale sollten daher vom Grundgefühl der Zuversicht und nicht der Ängstlichkeit getragen sein […]. Die Konservativ-Bürgerlichen sollten bedenken, dass sie den nachfolgenden Generationen zwar etwas hinterlassen sollten, das zu bewahren wert ist, doch sollten die Liberalen darauf drängen, dieses nur unter dem Vorbehalt ständiger Veränderung zu akzeptieren.
Süddeutsche Zeitung, 7. 8. 2000
Der Literaturnobelpreisträger Günter Grass fordert die Zeitungen dazu auf, „zur bewährten und besseren Rechtschreibung zurückzukehren." Das entspreche dem Willen der Mehrheit.
In der Schweiz und vor allem in Österreich gibt es eine mächtige Widerstandsbewegung gegen die Reform. Wie ist es möglich, dass Sie davon nichts wissen?
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Ralph Pöhner, Facts, 10. 8. 2000
Auffällig etwa, wie wenig Niederschlag die neue deutsche Debatte in der Schweiz fand.
Ganzseitige werbung des Dudenverlags für die am 25. august erscheinende neuauflage des rechtschreibdudens, u. a. Frankfurter Allgemeine Zeitung, 5. 8. 2000
Dahinter stecken viele kluge Köpfe.
20 minuten (Zürich), 26. 6. 2000
Der Zürcher Bildungsdirektor [= kultusminister] Ernst Buschor will an Schule und Uni mehr Naturwissenschaften und Informationstechnologie.
Eine [echte] ortografiereform bietet die einzigartige gelegenheit, den schulstoff schlagartig zu entlasten, ohne dass dadurch der geringste schaden entsteht.
Wilhelm Friedrich Schubert, Ueber den gebrauch der grossen buchstaben vor den hauptwörtern der deutschen sprache, 1817, s. 48
Wie viele unnöthige mühe und plage nähmen wir unseren schreibeschülern ab, wie vielen verdruss und widerwillen ersparten wir ihnen, wie leicht und angenehm machten wir ihnen die ganze schreiberei, wenn wir sie mit den grossen buchstaben verschonten.
Dies gelesen:
Profil, 31. 12. 1999, nr. 1/2000, seiten 57 bis 159
Was bleibt vom 20. Jahrhundert.
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Und das gedacht: Auf den 102 seiten listet das österreichische nachrichtenmagazin viel gutes und schlechtes auf; die rechtschreibreform ist nicht dabei. Schon vergessen:
Der Tagesspiegel vom 28. 12. 1994
Und doch war es ein Jahrhundertereignis, als sich 17 Experten auf neue Rechtschreibregeln einigten; ähnliches ist zuletzt 1901 geschehen. […] Die Rechtschreibung, dieses scheinbar so trockene Thema, weckt heiße Emotionen.
Albrecht Nürnberger, arbeitsgruppe der nachrichtenagenturen zur umsetzung der rechtschreibreform, als begründung für möglichst geringe veränderungen (Stuttgarter Nachrichten, 28. 7. 1999)
Wir wollten den Leser nicht verunsichern, vor allem soll seine Zeitungslektüre ein sinnliches Vergnügen bleiben.
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H. C. Artmann, österreichischer schriftsteller (profil, 7. 6. 1999)
die kleinschreibung ist viel sinnlicher.
Der Spiegel, 14. 10. 1996, nr. 42, s. 3, Hausmitteilung
Für den SPIEGEL ist klar: Er wird die Reform ignorieren, es bleibt beim gewohnten Deutsch.
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Agenturmeldung, 7. 4. 1999
Die neue Rechtschreibung wird es bei dem Nachrichtenmagazin «Der Spiegel» und den Blättern des Hamburger Verlages Gruner + Jahr ab 1. August geben.