Eigennamen gehören nicht in derselben weise zum bestand einer bestimmten sprache wie wörter; es ist also zweckmässig, sie im zuge des geschriebenen zu signalisieren, und dafür sind grosse anfangsbuchstaben ein geeignetes mittel.
Substantiv- vs. eigennamengrossschreibung
Die substantivgrossschreibung ist eine formale regelung. Die anzahl der substantive ist begrenzt; man findet sie im wörterbuch. Was ein substantiv ist, ist klar definiert. Deshalb hat der schreiber keine möglichkeit, damit irgendetwas auszudrücken; er hat nur die «möglichkeit», sich zu blamieren. Letzteres kann natürlich ein korrektor verhindern – aber gerade die tatsache, dass es ein aussenstehender besser weiss als der schreiber und eventuell als der leser, beweist den formalen und damit sinnlosen charakter der regelung. Wenn zwei menschen miteinander reden, brauchen sie auch keinen korrektor. Die grammatik ist immer da; sie ist für sender und empfänger gleich gut (oder schlecht) zu erkennen; es gibt keinen grund, dass ein mensch dem anderen grammatikunterricht erteilen muss. Zudem besteht in der praxis eine wahrscheinlichkeit von 50 %, dass der leser die grammatik besser kennt als der schreiber.
Die anzahl der eigennamen ist unbegrenzt; sie sind im prinzip übersprachlich. Die wörter einer sprache haben eine bedeutung, man kann sie in eine andere sprache übersetzen. Eigennamen haben keine bedeutung; sie bezeichnen etwas. Übersetzen kann man sie nur beschränkt. Es kann sinnvoll sein, dem leser (oder einer maschinellen sprachverarbeitung) das erkennen von eigennamen zu erleichtern. Das wörterbuch versagt dabei meistens oder führt in die irre. Beispiele: familennamen wie Fischer, Herzog; dörfer wie Dorf, Wald (kanton Zürich) oder Sorge (Sachsen-Anhalt). Diese information wird durch die substantivgrossschreibung teilweise verdeckt. Eine sonderbehandlung der eigennamen ist daher sinnvoll.
Zur disambiguierung durch substantivgrossschreibung: sicht des lesers.
Was ein eigenname ist, ist im einzelfall manchmal schwer zu entscheiden. Formale kriterien reichen nicht immer aus. Es ist jedoch weder in quantitativer noch in qualitativer hinsicht dasselbe wie bei einer grammatikalischen grossschreibung:
Die übergangszone ist wesentlich kleiner, da eigennamen in einem text seltener vorkommen.
Der inhalt — also Ihre absicht — ist massgebend, nicht Ihr grammatikwissen.
die verfehlungen im gebrauch der majuskeln treten offen zutage, als im barock die fraktur-entwicklung einen höhepunkt erreicht . die zeitgenossen schon wenden sich gegen die entwertung der versalien durch schrankenlosen gebrauch . »anfangsbuchstaben«, so heißt es in der »kunstreichen schreibart des paulus fürsten«, 1690, »werden versal genennte, weil sie am anfang des verses stehen, zu anfang der ersten zeile, zu anfang der eigenen namen .« heftig kritisiert man es, daß die großbuchstaben darüber hinaus von den setzern in dekorativer absicht verwendet werden : »es findet sich in den druckereyen kein geringer mißbrauch« – so heißt es weiter – »indem man alle selbständige wörter mit einem versal zu setzen pflegt, welches aber in den alten büchern nicht zu finden und nicht recht ist .« werden damals schon in den zeiten der frakturherrschaft die versalien am anfang der substantive als mißbräuchlich empfunden, so tritt der zwiespalt noch offener zutage, als man im 18. jahrhundert die antiqua wiederentdeckt .
In den deutschen Handschriften des Mittelalters und noch in den gedruckten Schriften des 15. Jahrhunderts bestand derselbe Brauch wie in den lateinischen und griechischen: nur das erste Wort des Satzes bez. der Reihe und der Eigenname wurde mit großen Anfangsbuchstaben geschrieben, so daß das Auge beim Ueberblicken der Schrift leicht und schnell den Beginn der Sätze und die Eigennamen herausfand. […] Wenn der Gebrauch der großen Anfangsbuchstaben von Haus aus keinen andern Zweck hatte und haben konnte, als die Aufmerksamkeit auf ein vor andern beachtenswerthes Wort hinzulenken, es vor denselben hervorzuheben, so leuchtet ein, daß die jetzige Verwendung derselben zweckwidrig ist. Sie ist vielmehr, gerade so wie die unglückliche Bezeichnung des Substantivs durch „Hauptwort“, geeignet, zu der irrigen Annahme zu verleiten, als habe das Substantiv in irgend einer Weise einen Vorrang vor den übrigen Wörtern im Satze zu beanspruchen.
Es iſt beachtenswert, daß die älteren Grammatiker, auch wenn ſie dem ausgedehnten Gebrauch der großen Buchſtaben nicht günſtig ſind, ſich doch gleichmütig und gelaſſen über denſelben ausſprechen. So lange es eine freie und veränderliche Gewohnheit war, kam man nicht zum Bewußtſein, zu welchen Quälereien die regelmäßige Bezeichnung einer grammatiſchen Kategorie führen würde. Der einzige Friſch, der ſprachenkundigſte und einſichtigſte der älteren Grammatiker, ſpricht ſich mit voller Energie dagegen aus: „Wann unter allen Schreiber-Laſten, die man nach und nach den Einfältigen aufgebürdet hat, eine beſchwerlich iſt, und dabei ungegründet, ſo iſt es dieſe: Daß man alle Subſtantiva mit großen Buchſtaben ſchreiben müſſe“. Aber Friſch vermochte es nicht, den Strom zurückzuhalten; nach ihm kam Gottſched, der in ſeinem Gelehrtenſtolz mit Verachtung auf die Sprachlehrer ſchaute, „die uns, oder vielmehr nur dem Pöbel, das Schreiben dadurch zu erleichtern geſucht, daß ſie alles, was eine Schwierigkeit machen kann, wegzuſchaffen gelehret. Das hieße ja nach Erfindung des Getreides zu den Eicheln umkehren.“ Dieſe Anſchauungen ſiegten.
Daß ohne irgend einen Nachtheil der Gebrauch, alle Dingwörter mit einem großen Anfangsbuchstaben zu schreiben, unterbleiben kann, erweist der Schriftgebrauch aller anderen europäischen Völker, welche, wie bis zum 16. Jahrhundert auch das deutsche Volk, außer den Eigennamen nur das erste Wort am Anfange eines Lesestückes und nach einem Punkte durch einen großen Anfangsbuchstaben zu dem Zwecke hervorheben, dem Lesenden den Ueberblick zu erleichtern.
Die gewohnheit, die hauptwörter mit grossen anfangsbuchstaben zu schreiben, hat gar keinen grund in der sprache selbst und beruht so wenig auf einer allgemeinen sicheren regel, dass wir in vielen fällen gar nicht wissen, wie wir schreiben sollen.
in lateinischen büchern blieben auszer den initialen nur die eigennamen durch majuskel hervorgehoben, wie noch heute geschieht, weil es den leser erleichtert. im laufe des 16 jh. führte sich zuerst schwankend und unsicher, endlich entschieden der misbrauch ein, diese auszeichnung auf alle und jede substantiva zu erstrecken, wodurch jener vortheil wieder verloren gieng, die eigennamen unter der menge der substantiva sich verkrochen und die schrift überhaupt ein buntes, schwerfälliges ansehen gewann, da die majuskel den doppelten oder dreifachen raum der minuskel einnimmt.
Eins der finstersten Kapitel in unſerer Orthographie ist die Großschreibung der Substantive. Erwieſenermaßen ist nicht einmal der gebildete Deutsche imstande, in jedem Falle zweifelsfrei fehlerlos zu schreiben. Das ist heute der Fluch einer harmloſen, aber in ihren Folgen böſen Tat, die fortzeugend nur böſes gebar. Fromme Mönche in den Klöstern begannen bei der Überfülle an Zeit, die ſie hatten, einzelne Buchstaben auszumalen, zu verschnörkeln, zu verzieren, Majuskeln (Großbuchstaben) zu schaffen und später ſolche zu verschiedenen Zwecken zu verwenden. […] und nur der Deutsche hat hernach das unbegreifliche Substantiv mit der Majuskeljacke herangezüchtet und quält alle Kinder mit dieſer unverdaulichen Frucht.
In diesem trilateralen Kooperationsprojekt zwischen dem Rat für deutsche Rechtschreibung, dem österreichischen Bildungsministerium und dem ACDH der Österreichischen Akademie der Wissenschaften wurden 534 Deutsch-Maturaarbeiten des Jahres 2016 aus ganz Österreich einer […] Auswertung […] unterzogen […]. Dabei kristallisierte sich in puncto Rechtschreibfehler die Groß- und Kleinschreibung mit mehr als 50 % Fehleranteil, mit deutlichem Abstand gefolgt von der Getrennt- und Zusammenschreibung (19 %), als fehlerträchtigster Bereich heraus.
Heinrich Böll, deutscher schriftsteller, 1973
Eine sprache verliert weder an informationswert noch poesie, wenn sie — wie die englische und die dänische — von der gross- zur kleinschreibung übergeht.
den vorwurf der häßlichkeit der kleinschrift muß ich als unberechtigt zurückweisen; denn diese schrift ist schön, ruhig, harmonisch und sehr gut lesbar /
[…] für große anfangsbuchstaben sehe ich überhaupt keine gründe ! das pochen auf die überlieferung, auf geschichte und alte gewöhnung ist ja keineswegs triftig . die regel: »hauptwörter sind groß zu schreiben«, übersieht, daß im rhythmischen strome der sprache das grammatische hauptwort oft das nebensächliche wort wird: wir opfern den sinn unserer sätze den schematischen formen !
substantive gehören vom sockel gestossen und eingereiht, um material und geist in ein neues gleichgewicht zu bringen. nebenbei: auch elfriede jelinek setzt sich für die gleichwertigkeit aller wortarten ein. gegner der idee behaupten zwar, dann wisse keiner mehr, warum spinnen spinnen, was die sucht sucht oder wie man dichter dichtet. aber wäre es nicht ein neuer interpretationsspielraum für verkrustete gebrauchstexte? schliesslich haben schon die lieben genossen die liebe genossen und mit konsequenter kleinschreibung helfen wir auch den armen vögeln. es ist also ökologisch, sich mit brüsten zu brüsten.
Lukas Hartmann, Neue Zürcher Zeitung,
Natürlich ist dies eine halbherzige Reform; natürlich hätte man entschieden weiter gehen und zum Beispiel die gemässigte Kleinschreibung einführen müssen.
Dass die Bestrebungen zur Einführung der Kleinschreibung nun mit der amtlichen Absegnung einer modifizierten Grossschreibung aufgegeben würden, ist allerdings auf weitere Sicht kaum anzunehmen.