Unterschiedliche Denkweisen und Strategien ergeben sich auch aus den Vorstellungen von den Adressaten ihrer Arbeit: Die auf Reform erpichten Linguisten denken an (oder für) die Schreiber — und zwar an die unsicheren Schreiber, die Anfänger und schwer Belehrbaren. Sie wollen also auch Anwälte sein. Dagegen wenden sich die schreibenden Journalisten an die Leser – und zwar an die kundigen Leser. Natürlich sei es richtig, daß man beim Erlernen einer Sprache nicht gleich mit den Ausnahmen anfange; selbstverständlich müsse man den Anfang didaktisch leicht machen. Aber deshalb brauche man doch nicht gleich die Sprache zu ändern, warnen die Journalisten, und der Aachener Linguist Stettner stimmt ihnen mit einem bildkräftigen Vergleich zu: „Wenn jemand Schwierigkeiten mit dem Autofahren hat, wird ja auch nicht gleich die Verkehrsordnung geändert, und auch die Chausseebäume werden nicht gleich gefällt.“
1. Ein interessengegensatz zwischen dem schreiber und dem leser ist ein beliebtes narrativ, wohl basierend auf einem dualismusdenken: Was dem einen nützt, muss dem anderen schaden. Und es wird nicht als widerspruch empfunden, dass der schreiber die interessen des lesers am besten vertritt. Unsere meinung: Eine gute rechtschreibung ist für alle gut, eine schlechte ist für alle schlecht. 2. Die sprache wollen wir nicht ändern. 3. Selbstverständlich werden die verkehrsordnung (ein weiteres menschenwerk) geändert und bäume am strassenrand gefällt (oder die strasse verlegt).
Theodor Ickler, Die Rechtschreibreform auf dem Prüfstand, St. Goar , s. 3
Die Orientierung an den Bedürfnissen des Lesers ist der Schlüssel zum Verständnis der Rechtschreibung und zur Beurteilung der Rechtschreibreform. Jeder von uns liest tausendmal mehr, als er schreibt.
Einmal abgesehen von der […] sicher nicht der Realität entsprechenden Proportion 1:1000, zumal bei »jedem«, halte ich diese These für einen fundamentalen Trugschluß. Abweichungen von der verordneten orthographischen Norm, seien es Fehler oder Absicht, beeinträchtigen die Lesbarkeit nicht ernsthaft. Sie stören auch kaum. Oft bemerkt sie auch ein die Rechtschreibung im großen und ganzen beherrschender Leser überhaupt nicht. Die Orthographie muß aber für jeden leicht erlernbar sein, der die zu schreibende Sprache beherrscht oder erlernt. Sie muß so konstruiert sein, daß jedes durchschnittlich intelligente Kind ihre Regeln an der eigenen Sprachkompetenz zu überprüfen vermag.
Reading is the most fundamental educational necessity. That's why learning to read English should be made much easier than it is. - Why we should consider amending the irregular spellings that make it exceptionally difficult improvingenglishspelling.blogspot.com
Lesekompetenz
Fridolin (Schwanden GL), , zu einer befragung von armeerekruten (1991)
Ein Viertel hatte Mühe, den Sinn eines simplen Zeitungsartikels zu verstehen.
Tages-Anzeiger, , zur internationalen vergleichsstudie ALL (Adult literacy and life skills)
Jeder vierte Viertklässler in Deutschland kann einer Studie zufolge nicht richtig lesen. Wie aus der am Dienstag in Berlin vorgestellten internationalen Grundschul-Lese-Untersuchung (Iglu) hervorgeht, erreichen 25 Prozent der Kinder in dieser Altersstufe nicht das Mindestniveau beim Textverständnis, das für die Anforderungen im weiteren Verlauf der Schulzeit nötig wäre.
Rund 20 Prozent der Jugendlichen können vor Beginn ihrer beruflichen Laufbahn höchstens einen einfachen Text verstehen. Zu denken geben muss zudem, dass einem Drittel der Schulabgänger selbst die elementaren Lesefähigkeiten abgehen.
Wenn es aber ums Lesen geht, dann erreichen die jungen Schweizer bloss Rang 19 – und was schwerer wiegt: 25 Prozent sind völlig abgehängt worden. Sie sind 15 Jahre alt und vermögen einen relativ einfachen Text nicht zu erfassen. Ein Viertel unserer Jugendlichen. Leben wir im Kongo?
Der Rat für deutsche Rechtschreibung […] hat sich im Rahmen seines Beobachtungsauftrages über den aktuellen Zustand der deutschen Rechtschreibung ausgetauscht. Dabei wurde deutlich, dass der Sprache und insbesondere ihrer Rechtschreibung hohe Bedeutung beigemessen, aber im Umgang mit ihr nachlässig verfahren wird. In dieser Haltung ist mit eine Ursache dafür zu sehen, dass ungefähr zwanzig Prozent eines Jahrgangs der 15-Jährigen als Analphabeten gelten müssen; ein Zustand, der nicht hingenommen werden darf.
Ein wenig beachtetes Ergebnis der Studie [Bock, Hagenschneider & Schweer (1989)] ist, dass die niederländischen Versuchspersonen mit durchschnittlich 361 Wörtern/min erheblich schneller lasen als die deutschen Probanden (320 Wörter/min). Diese Differenz von über 12% ist weit größer als die zwischen den unterschiedlichen Schreibungen. Anhand der Experimentalsituation ist es nicht möglich, die Gründe für diesen großen Unterschied zu beurteilen, doch werfen die Daten kein grundsätzlich ermutigendes Licht auf die Effizient des deutschen orthografischen Systems.
Was Kinder nicht verletzt, kann Beamte sehr wohl verletzen. Denn anders als Kinder, die als Schulanfänger ja noch gar keine Rechtschreibung beherrschen und folglich auch nicht zu Umstellungen gezwungen werden, hat ein schriftkundiger Erwachsener Schreibweisen gespeichert und sich bis ins Unbewusste hinein zu eigen gemacht («internalisiert»).
Gegen die tese mit den gespeicherten schreibweisen sprechen nicht nut die schreibwirklichkeit, sondern auch erkenntnisse der forschung:
neuAnne Marowsky, Neue Zürcher Zeitung,
Lesen - Buchstabe um Buchstabe. Erkennen wir Wörter als ein bildhaftes Ganzes, oder stückeln wir sie Buchstabe für Buchstabe zusammen? Schneller und effizienter wäre in jedem Fall die erste Technik. […] Umso erstaunlicher ist daher das Ergebnis der New Yorker Forscher Denis Pelli und Deborah Moore […]: Demnach tun wir uns schon schwer, die gängigsten kurzen Wörter wie «und» oder «ist» als Ganzes zu identifizieren.
Auswirkungen der neuregelung von 1996
St. Galler Tagblatt,
Die neue Rechtschreibung erschwert das Lesen, meint Peter Müller, Beauftragter für Rechtschreibung der SDA.
Die Reform der deutschen Rechtschreibung aber ist, der Arbeit von fünfzehn Jahren und neun Fachtagungen zum Trotz, so unscheinbar geworden, daß man sie beim Lesen kaum bemerken wird.
Die maschinelle Verarbeitung „natursprachlicher“ Texte wird in vermutlich naher Zukunft eine große Rolle beim Sammeln, Verknüpfen und Auslesen von Informationen spielen und auf allen Gebieten der Wissenschaft, der Technik, der Wirtschaft und der Verwaltung den betreffenden Sprachgemeinschaften ihren Rang sichern. Man sollte inzwischen die so informative deutsche Majuskel nicht abschaffen. Im Gegenteil – man wird mit hoher Wahrscheinlicheit auch in den anderen Sprachen, die diese maschinellen Mittel nutzen, nach einem wie auch immer gearteten Unterscheidungsmerkmal suchen, welches Substantive von anderen Wörtern sowohl für die „natürliche“ als auch für die „künstliche“ Intelligenz unterscheidet.
Im Gegenteil – das erkennen von substantiven ist nicht auf den (unsicheren) grossbuchstaben angewiesen. Es gibt artikel, endungen, z. b. ung, und eine allgemein grössere wortlänge. Dagegen ist die identifizierung von eigennamen viel wichtiger (vor allem wegen des typischen bedeutungsverlusts) und schwieriger. Hier kann die grossschreibung helfen: fischer (beruf), Fischer (familienname); halle (raum), Halle (stadt).